Berlin Festival, Arena Park

Willkommen im Hipster-Gehege! Beim Berlin Festival 2014 wurde es leider manchmal arg eng. Foto: Berlin Festival/Robert Winter
Willkommen im Hipster-Gehege! Beim Berlin Festival 2014 wurde es leider manchmal arg eng. Foto: Berlin Festival/Robert Winter

Hals über Kopf hat das Berlin Festival in diesem Jahr seine Heimat gewechselt. Vier Wochen vor dem Start der Hauptstadt-Party mit mehr als 80 Acts auf neun Bühnen gaben die Veranstalter bekannt, dass man den bisherigen Standort am Flughafen Tempelhof verlässt und künftig in einem selbst geschaffenen “Arena Park” rund um die Arena Berlin in Kreuzberg feiern will.

Ein erstaunlicher Schritt – nicht nur, weil das bisherige Gelände im Tempelhof das Festival zu einem guten Teil geprägt hat, sondern auch, weil er so kurzfristig kam. Als der Umzug bekannt gegeben wurde, waren längst schon die meisten Künstler gebucht und die meisten Tickets verkauft.

Komplett verwunderlich sind derlei Überraschungen allerdings nicht, schließlich war dieses Festival schon immer ein bisschen anders. Das Berlin Festival 2014 hat es nun geschafft, dieses Besondere erst recht zu betonen. Campen konnte man hier auch zu Tempelhof-Zeiten noch nie, diesmal konnte man sogar das Schlafen weglassen: Gefeiert wurde rund um die Uhr, von Freitagabend (Kid Simius machten den Auftakt auf der Hauptbühne in der Arena) bis Montagmorgen (kurz vor 9 Uhr erklangen im Club der Visionäre, mit lauschigem Blick auf den Flutgraben der Spree, die letzten Beats). Mit der nötigen Ausdauer (oder den falschen Drogen) verschmelzen die einzelnen Acts ineinander, wann das Programm eines Tages endet und das des anderen anfängt, kann man allenfalls der Festival-App entnehmen.

The Acid waren das Highlight am Freitag. Foto: Berlin Festival/Stephan Flad
The Acid waren das Highlight am Freitag. Foto: Berlin Festival/Stephan Flad

Dieses Konzept hat ziemlich erstaunliche Szenen zur Folge, die wohl einmalig sein dürften für die deutsche Festival-Landschaft. Am Freitagabend ist der Arena Park zumindest ordentlich gefüllt. Das Highlight des Abends sind The Acid, die den Sound ihres formidablen Albums Liminal fast 1:1 auf die Bühne im Glashaus bringen, sich aber genau das richtige Maß an gelegentlichen Ausbrüchen bewahren. Allerdings muss man sich bei einem derart genialen Auftritt fragen: Warum schweigen die Leute im Publikum beim dämlichen James Blake, als sei es ein Gottesdienst, und plappern hier bei solch filigraner Musik ständig respektlos dazwischen? Auch von der Bühne gibt es deshalb den einen oder anderen bösen Blick. Würde man jeden köpfen, der hier zu viel quasselt, kämen jedenfalls deutlich mehr Häupter zusammen als die Jakobiner im gesamten Jahr 1793 geschafft haben.

Erstaunliche Ruhe herrscht hingegen, kommt man am Samstagmorgen aufs Gelände. Dann sieht man, auch als normaler Festivalbesucher, all das, was sich sonst eher hinter den Kulissen abspielt: Im Art Village wird noch nach Schrauben gesucht. Das Security-Personal tauscht die Erfahrungen der ersten Festival-Nacht aus („Immer gut auf das eigene Wasser aufpassen, sonst wird das von den Besuchern geklaut!“). Roadies laden in der Arena das Equipment der Editors aus einem Truck, andere Helfer leeren Mülltonnen und schleppen Warsteiner-Kästen.

Morgens halb elf in Deutschland: Auf dem Badeschiff tanzt kein Mensch.
Morgens halb elf in Deutschland: Auf dem Badeschiff tanzt kein Mensch.

Nur die Idee mit der Nonstop-Party lässt sich nicht so recht am lebenden Beispiel beobachten: Zwar ist schon kurz nach 10 Uhr herrliches Wetter und es liegt ein Festival-taugliches Urin-Aroma in der Luft. Aber auf dem Badeschiff, der einzigen am Samstagmorgen beschallten Tanzfläche, ist eher Rekonvaleszenz angesagt. 27 Leute tummeln sich noch hier, einer duscht, eine schwimmt, keiner tanzt. Die meisten schlafen oder dösen in den Liegestühlen, ignorant gegenüber den Beats, die Fidelity Kastrow aus den Boxen jagt. Am Ausgang grübelt dementsprechend eine Gruppe von Besuchern, wie man die Party wohl noch am Leben erhalten kann. “After Hour bei Katharina”, lautet die Lösung.

Noch in einer weiteren Hinsicht passt der Umzug im Hau-Ruck-Verfahren im Nachhinein bestens zum Charakter des Berlin Festivals: Spontan und kreativ zu sein, ist schließlich das Image der Hauptstadt, erst recht in Kreuzberg. Das Berlin Festival 2014 sieht in vielfacher Hinsicht aus wie ein Pop-Up-Festival, das sich nur sporadisch einrichten will und kein Problem mit Provisorien hat. Am Freitagnachmittag, wenige Stunden bevor der Einlass startet, ist noch mächtig viel aufzubauen. Schaut man an den weiteren Tagen ein bisschen links und rechts der Bühnen, entdeckt man riesige Fahrradgaragen, Lagerhallen, in denen sich Autositze und Kühlschränke stapeln, und einen Flohmarkt, auf dem festivalbedingt Umsatzeinbußen befürchtet werden. „So etwas schreckt die Kunden ab“, sagt Dieter, der hier jedes Wochenende an seinem Stand sitzt und sich mit seinem Sortiment auf Schuhe, Schmuck, DVDs und, ähm, allen möglichen Scheiß dazwischen spezialisiert hat.

Das ist tatsächlich das authentische Kreuzberg, und wohl auch deshalb sieht niemand eine Notwendigkeit, all das zu kaschieren. Die Lebendigkeit des buntesten, ranzigsten, feierwütigsten, hippesten, internationalsten Viertel Berlins drückt so, praktischerweise ganz ohne Zusatzaufwand für die Veranstalter, dem Festival ihren Stempel auf, viel mehr als das bisher bereits am Tempelhof gelungen war. Sie ist es auch, die etliche der Künstler nach Berlin zieht. So schwärmt Katie Stelmanis von Austra, die am Freitagabend in der Arena zu hören sind, von der elektronischen Musik der Hauptstadt, die auch das neue Album der kanadischen Band prägen wird, wie sie mir im Interview verraten hat: “Das ist einfach die aufregendste Musik, die ich derzeit kenne. Es kommt vor, dass ich irgendwelchen Techno aus Berlin höre und mich nur wundern kann: Wie zur Hölle kriegen die diese Geräusche hin? Das ist das Inspirierendste, was ich mir vorstellen kann.”

Die Jungs von Rüfüs sind aus Australien sogar gleich nach Berlin gezogen, um hier ihr zweites Album aufzunehmen. Und ihrer Heimat werden sie schon gefeiert, hier eröffnen sie am Samstagnachmittag das Programm auf der Hauptbühne mit Songs, die in Deutschland noch nicht einmal offiziell veröffentlich sind. “Ich finde das nicht schlimm. Auf diese Weise bekommt man die ehrlichste Reaktion. Die Leute haben keine vorgefertigte Meinung, sondern hören einfach auf die Musik”, sagt Jon George zu dieser ungewöhnlichen Situation. Seit zwei Wochen ist das Trio in der Stadt, bis Ende des Jahres wollen sie hier arbeiten. „Viele Leute, die unsere Musik beeinflusst haben, kommen aus Berlin. Hier gibt es eine irre Energie und ein riesiges Maß an Freiheit. Wir freuen uns wirklich darauf, so richtig in diese ganze Musik- und Clubszene eintauchen zu können“, ergänzt sein Bandkollege James Hunt.

Zu den Besonderheiten durch das Rund-um-die-Uhr-Konzept gehört auch, dass es nur noch gefühlte Headliner gibt. Normalerweise beschließt die berühmteste Band den Abend, dann gehen die Lichter aus – beim Berlin Festival 2014 gab es einen solchen Sonderstatus allenfalls in Form von etwas mehr Spielzeit. Nicht alle der großen Acts, zu denen Woodkid und K.I.Z. zählen, können das nutzen. Vor allem die Editors versagen in der Rolle als Quasi-Headliner: Als sie mit Papillon ihr 90-minütiges Set beenden, haben sie den Fans viel Pathos, aber wenig Inspirierendes geboten. Die These, dass die Rockmusik (wieder einmal) tot ist, könnte kaum besser bestätigt werden als mit diesem Auftritt einer der ganz wenigen klassischen Rockbands im diesjährigen Line-Up.

Deutlich lebendiger und kurzweiliger ist das Konzert von Bombay Bicycle Club: Neben viel Virtuosität bringen die Londoner reichlich Pop-Appeal  mit, viele prominente Einsätze für Gast-Sängerin Liz Lawrence und immer wieder Hits und Momente, die so mitreißend sind, dass die Fans sogar kurz das Twittern, Posten und Texten auf dem Smartphone unterbrechen, um mal schnell den Refrain mitsingen zu können. Allerdings hätte die Show unter freiem Himmel noch mehr Spaß gemacht – auch bei einigen anderen Acts konnte man bedauern, dass es im Arena Park kaum Open-Air-Feeling gibt (was auch deshalb störte, weil es vor allem zwischen den Bühnen und an den Eingängen oft recht beengt zuging und man sich gelegentlich wie in einem gut gesicherten Hipster-Gehege fühlen konnte).

Große Bühne, alte Hits: Das war das Konzept von Fünf Sterne Deluxe. Foto: Berlin Festival/Robert Winter
Große Bühne, alte Hits: Das war das Konzept von Fünf Sterne Deluxe. Foto: Berlin Festival/Robert Winter

Dankbar für die große Bühne zeigen sich Fünf Sterne Deluxe, die sich eine eigene Theke aufgebaut haben und mit viel Körpereinsatz vor allem die alten Hits des 1998er Albums Sillium präsentieren. Zoot Woman sind so elegant und funktional, dass sie am frühen Samstagabend freiwillig den Soundtrack zum Kraftschöpfen spielen. Jazzanova setzen hingegen bei ihrem DJ Set im Arena Club auf derart heftige Bässe, dass man auch kurz vor 3 Uhr besser noch eine Sonnenbrille tragen sollte – um wenigstens ein Sinnesorgan ordentlich vor dieser Attacke zu schützen. Auf der Splash! Mag-Bühne gibt es derweil am Samstag und Sonntag eine Art Leistungsschau des (vorrangig) deutschen Rap, so etwas wie das Hip-Hop-Gegenstück zur gleichzeitig stattfindenden IFA am anderen Ende der Stadt.

Aufregend: Warpaint kamen am Samstag schnell in Schwung. Foto: Berlin Festival/Robert Winter
Aufregend: Warpaint kamen am Samstag schnell in Schwung. Foto: Berlin Festival/Robert Winter

Für alle, die es auf das Badeschiff geschafft haben, wird das 4-Stunden-Set von Sven Väth am Sonntag sicher ein besonderes Erlebnis. Ein Höhepunkt ist auch die Show von Warpaint auf der Main Stage. Zwar sind die Kalifornierinnen zu Beginn etwas schwach bei Stimme (was daran liegen kann, dass es ihre vierte Show innerhalb von sechs Tagen ist; oder daran, dass ich – wenn ich mich nicht täusche – in der Nacht zuvor gegen 5 Uhr mindestens zwei der Mädels beim äußerst spaßigen Karaoke im White Trash gesehen habe), dann kommen sie allerdings schnell in Schwung. Allein Undertow ist so brodelnd und aufregend wie kaum ein anderer Song an diesem Wochenende. Moderat nutzen ihr umjubeltes Heimspiel, um dem Festival mit einem erstaunlich abwechslungsreichen Konzert und tollen Video-Projektionen die Krone aufzusetzen. Zudem kündigen sie ihr Abschiedskonzert im Dezember an, natürlich in Berlin.

Nicht zuletzt hat die Hauptstadt das Image einer Metropole, in der man als Kreativer günstig leben kann. Auch da hat das Berlin Festival neue Schnittmengen geschaffen: 2014 wurden die Ticketpreise gesenkt, vielleicht auch deshalb, weil man nicht sicher war, wir gut das Programm und der neue Standort bei den Musikfans ankommen würden. Es scheint funktioniert zu haben – am Samstagnachmittag meldeten die Veranstalter trotz der vielen Unkenrufe im Vorfeld „ausverkauft“.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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