Christian Steiffen Täubchenthal Leipzig

Christian Steiffen, Täubchenthal, Leipzig

Religion ist, machen wir und nichts vor, ein Business. Und sie ist ein, reden wir nicht drum herum, schwieriges Business. Verdammt schwierig. Höllisch schwierig.

Man kann das an diesem Abend in Leipzig innerhalb weniger Meter in Augenschein nehmen. Verlässt man, wie ich, sehr pünktlich das Konzert von Christian Steiffen im Täubchenthal, kann man aus dem Gebäude nebenan noch ein bisschen Gesang hören. Dort feiert die TOS Gemeinde Leipzig ihre Gottesdienste, eine evangelische Freikirche. Auf der Bühne ihres ziemlich großen Raums in einem Backsteinbau stehen mehr Menschen als im Täubchenthal (vier statt drei), im Publikum jedoch deutlich weniger (etwa 15 statt etwa 1500). Es gibt Stuhlreihen, von ein paar Stühlen sind Menschen aufgestanden, sie wiegen sich im Takt, singen “Lalala” und klatschen in die Hände. Zwischen ihnen sind große Abstände, jeweils drei bis vier Stühle sind leer. Die Band scheint aus diesen kreuzbraven jungen Amerikanern zu bestehen, die gerne in die sächsische Diaspora importiert werden, um hier zu missionieren, und sich dann vielleicht wundern, wie wenig christliche Tradition sie vorfinden. Es sieht trostlos aus. Die Türen stehen offen an diesem milden März-Abend, aber es ist wohl auch als Symbol gemeint, als Einladung. Eine etwas dubiose, etwas ältere Frau (wahrscheinlich ist sie in Wirklichkeit in meinem Alter) in weißer Bluse winkt mich herein. Doch sie hat keine Chance. Schließlich habe ich gerade erst Gott gesehen, und zwar praktischerweise im Gebäude nebenan. Den Gott of Schlager, wie sich Christian Steiffen auf der aktuellen Tour (und dem aktuellen Album) nennt.

Als dort wenige Minuten zuvor im Täubchenthal als zweite Zugabe noch Ein Leben lang läuft und ich an der Theke meinen leeren Becher abgeben will, winkt mich ein etwas dubioser, etwas älterer Typ (wahrscheinlich ist er in Wirklichkeit in meinem Alter) in einem roten Rüschenhemd heran. Er gibt mir einen Kirsch-Schnaps aus. Als wir auf einen “Top-Abend” anstoßen, sieht das Getränk im Plastikbecher fast ein bisschen wie Messwein aus, und ich erkenne: Dieser Mann hat die Sache mit Religions-Business viel besser verstanden als die Frau aus der Kirchengemeinde nebenan. Er lebt die Tugenden von Großzügigkeit, Brüderlichkeit und Zusammengehörigkeit. So gewinnt man neue Jünger!

Natürlich haben auch die anderthalb Stunden zuvor dazu beigetragen. Christian Steiffen beginnt in Leipzig sehr pünktlich mit Hier ist Party, danach fragt er ab, wer im Publikum eigentlich für welchen der Corona-bedingt zweimal verschobenen Termine seine Tickets gekauft hatte. Er grübelt witzelnd, was wohl der Grund für die monatelange Verzögerung war und vermutet dann, dass er einfach zu lange rumgelegen hat, was als Überleitung zu Ich hab die ganze Nacht von mir geträumt dient. Es ist die erste von etlichen Ansagen, die auch gut in den ZDF-Fernsehgarten passen würden, und schnell wird in Leipzig klar, dass auch große Teile des Publikums dort gut aufgehoben wären. Man trifft im Täubchenthal (nota bene: die Taube gilt als Symbol für den Heiligen Geist) reichlich Menschen mit goldenen Pailetten-Blazern, viele mit Perücke. Männer tragen Elvis-Overall (Christian Steiffen war in einer früheren Inkarnation tatsächlich einmal Imitator des King Of Rock’N’Roll), Frauen haben LED-Ketten im Haar, die vielleicht zeigen sollen, dass sie hier Erleuchtung  finden oder gleich mit einem Heiligenschein angereist sind. Ein paar Leute haben ihr eigenes Konfetti mitgebracht, sehr viele finden es nach den 14 Songs des regulären Sets lustig, “Flughafen” statt “Zugabe” zu rufen.

Es gibt Momente während dieses Konzerts, in denen man ahnt, dass Christian Steiffen unter diesem Karneval- und Ballermann-Element leidet. Schon nach dem vierten Song des Abends wünschen sich ein paar volltrunkene Männer mit Partyhüten und Sonnenbrillen (indoor!) in den vorderen Reihen lauthals Champagner und Kaviar vom Debütalbum, doch sie werden verbal abgewatscht. Als es einen Kostümwechsel gibt (für In Budapest beim Schützenfest 1810 wirft sich der Sänger in eine Husaren-Uniform, für das folgende Wie der Wind in eine Westernjacke mit Cowboyhut, um dann für Ich fühl mich Disco wieder in die ursprüngliche Jeansjacke zu schlüpfen), fordert er das Publikum auf, das unbedingt spektakulär zu finden – wohl wissend, das optisch sonst nicht viel auf dieser Bühne passiert. Zudem droht er kurzerhand an, die Zugabe zu streichen, als sein Ausblick auf das nahende Ende der Show auf “Buh”-Reaktionen trifft. Man ahnt: Dieser Mann ist ein geborener Performer, aber er ist nicht unbedingt dafür gemacht, die Routine einer großen Tour zu ertragen, mit demselben Programm an jedem Abend und mit Fans, die das Subtile in seinen Songs gerne überhören und das Plakative umso mehr schätzen. Das sind vielleicht die Folgen der Christianisierung: Wenn die Zahl der Jünger*innen wächst, lässt sich schwerer überprüfen, ob sie den wahren Geist der frohen Botschaft wirklich verstanden haben.

Als Urchrist Fan der ersten Stunde kann das irritierend sein. Wenn man den Erlöser Christian Steiffen noch zu Beginn seiner Prophezeiung in kleinen Clubs erlebt hat, kann man fast ein wenig mit ihm leiden. Hier sind eindeutig Gläubige Fans im Gotteshaus Täubchenthal, die sein Evangelium Konzert missverstehen. Man würde diese Menschen lieber meiden statt ihnen die Hand zu reichen, so wenig das auch den Geboten des Gott of Schlager entspricht. Wenn direkt hinter dir plötzlich “Ich sehne mich so sehr nach Sexualverkehr” gegrölt wird, von jemandem, der das eindeutig nicht ironisch meint (zugleich zeigt das Konzert, dass es wenig Lieder gibt, bei denen das Spiel, einmal nur die Frauen und einmal nur die Männer singen zu lassen, so viel entlarvenden Spaß macht wie dieses) oder ein Song wie Schöne Menschen wirkt, als hätte jemand Mambo Kurt auf eine viel zu große Bühne gespült, dann kann man befürchten, dass die Botschaft von kompromissloser Nächstenliebe, die in den Liedern von Christian Steiffen steckt, vielleicht schon viel zu sehr verwässert ist. Dass auch seine Mission dazu verdammt ist, von Ketzern korrumpiert zu werden, wie es bisher noch bei jeder Religion passiert ist.

Zugleich kann man im Täubchenthal erleben, welche Mittel er nutzt, um den Abend auch für sich selbst unterhaltsam zu machen und sich mit diesen Effekten zu versöhnen. Er stellt zu Beginn nicht weniger als “Emotions, Feelings und Gefühle!” in Aussicht, ergänzt dann das Ende von Eine Flasche Bier um eine Strophe auf Französisch, verpasst Ich habe Haschisch probiert ein tolles Dub-Finale, und holt für Du und ich eine junge Frau namens Anna aus dem Publikum, die in diesem Duett den Part der abwesenden Eva Schneidereit übernehmen soll. Anna erntet nach den ersten Zeile prompt riesigen Szenenapplaus für ihre erstaunliche Performance als Opernsängerin-Ersatz, bevor klar wird, dass ihre Stimme gar nicht zu hören ist, sondern einfach der Original-Gesang als Playback läuft (was auch für die meisten Instrumente an diesem Abend gilt).

Der Begeisterung der Gemeinde schadet das allerdings keineswegs. Selbst im Gang wird schon nach wenigen Songs fleißig Discofox getanzt. Viele Fans filmen auf ihren Handys nicht nur das Geschehen auf der Bühne, sondern auch die Stimmung im Publikum, als wollten sie den Zuhausegebliebenen später zeigen: “Siehst du, es gibt auch andere, die hier Freude, Halt und Hoffnung finden! Die an diesen Mann glauben!” Und blickt man bei einer Zeile wie “Und dann bist du frei” aus Wie der Wind oder Christian Steiffens im Prinzip überflüssiger Frage nach dem Glaubensbekenntnis (“Can you feel it? Happiness!”) während der Zugabe in die Gesichter dieser Menschen, dann ist klar, dass sie glücklich sind, entrückt, vielleicht sogar erlöst. Das Publikum kann an diesem Abend seine Sünden und Sorgen abwerfen, Transzendenz erleben und womöglich sogar für anderthalb Stunden den Wunsch verspüren, die ganze Welt zu umarmen. Dass der Messias selbst in dieser Zeit vielleicht den einen oder anderen Moment hat, in dem er zweifelt, unterstreicht nur: Der Gott of Schlager opfert sich hier für uns, und er ist notfalls auch bereit, zum Märtyrer zu werden.

Die komplette Setlist von Christian Steiffen im Täubchenthal Leipzig:

1 Hier ist Party
2 Ich hab’ die ganze Nacht von mir geträumt
3 Ein Glück
4 Arbeiter der Liebe
5 Eine Flasche Bier
6 Du und ich
7 Die dicksten Eier der Welt
8 Selbstmitleid
9 Schöne Menschen
10 Ich habe Haschisch probiert
11 Ich hab dir den Mond gekauft
12 Ja Ja die Punkmusik
13 In Budapest beim Schützenfest 1810
14 Wie der Wind
15 Ich fühl mich Disco
Zugabe 1 Sexualverkehr
Zugabe 2 Ein Leben lang
Zugabe 3 Eine Rose

Du und ich, live mit der echten Eva Schneidereit.

Website von Christian Steiffen.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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