Clueso, Täubchenthal, Leipzig

Clueso Leipzig Konzert Clubtour
Clueso in Leipzig, kurz vor dem Freidrehen.

Mit dem Freidrehen ist das so eine Sache. Wenn man es übertreibt, sich zu schnell dreht oder zu lange, dann landet man womöglich an einem Ort, an dem man nie sein wollte und wo man nichts mehr wieder erkennt: die Gegend, die Leute, die Person, die man mal war – alles hat sich verändert. Zentrifugalkraft nennt sich das.

Clueso kann davon ein Liedchen singen, und er tut es auch. Freidrehen erklingt an diesem Abend in Leipzig nach 73 Minuten des Konzerts. Clueso erzählt, das Lied vom vorletzten Album Stadtrandlichter sei nach einem illegalen (!) Rave (!!) in Weimar (!!!) entstanden. Der Song wird fleißig gefeiert von den Fans im Täubchenthal, und dass die Leipziger den Erfurter diesmal hier erleben können und nicht etwa in einer deutlich größeren Halle, hat genau mit der Erkenntnis vom Freidrehen und den Folgen zu tun: Clueso hat beschlossen, sich zurück zu seinen Wurzeln zu begeben, ein bisschen mehr Autor und Solist zu sein statt Conferencier in einem riesigen Kollektiv an Musikern, wie es zuletzt oft der Fall war. Die Erkenntnis, dass er drauf und dran war, seinen (Marken-)Kern zu verlieren, schlich sich im Sommer 2015 bei ihm ein. Ergebnis war das sehr schöne (und programmatisch betitelte) Album Neuanfang. Und die Entscheidung, die Lieder der neuen Platte erst einmal auf einer Clubtour zu präsentieren.

Nach einer Viertelstunde entdeckt er: “Hier ist noch Glitzer von der Party von gestern” (wahrscheinlich liegt es eher noch von Santas viertem Fest im Täubchenthal, also schon seit vier Tagen). Dieser Zufall passt perfekt zum Mix aus Nostalgie und Ausgelassenheit, der offensichtlich hinter der Idee des Abends steht. Wie dankbar die Fans sind, die es ins Täubchenthal geschafft haben, ist überdeutlich: Es gibt viele euphorische Gesichter, fast nur textsichere Fans, verschüchterte Tanzversuche von Leuten, die vielleicht nicht ganz so oft zu Konzerten gehen, an der Bar weibliche Gäste, die kaum Übung darin haben, drei Pfeffi und zwei Bier mit nur zwei Händen zu tragen, und natürlich die obligatorischen “Zugabe”-Rufe, als das reguläre Set nach gut 90 Minuten mit Gewinner zu Ende geht.

Man könnte glauben, es sei alles wie früher bei einem Konzert von Clueso: Anekdoten über Udo Lindenberg. Hits wie Chicago als zweite Zugabe, das zuvor energisch gefordert wird von den Fans und sogar die Leute, die sich schon zur Garderobe des Täubchenthal bewegt haben, noch einmal zum Mittanzen bringt. Erinnerungen an vergangene Shows in Leipzig und an Abende in dieser Stadt, an denen Clueso auch “ein paar Mal abgestürzt ist auf der Suche nach dem nächsten guten Club”, wie er sagt. Die Erkenntnis, das Love The People zwar schon mehr als zehn Jahre alt ist, aber aktuell auch gut gegen die AfD passt. Die nicht zu leugnende Tatsache des Erwachsenwerdens, repräsentiert durch Strampelanzüge, die es für 15 Euro am Merchandising-Stand gibt.

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In ein paar Momenten, wenn er kurz nicht aufpasst, ist auch die Selbstgefälligkeit nicht weit, die beispielsweise das letzte Livealbum so langweilig gemacht hat. Aber insgesamt ist unverkennbar, dass Clueso die Weichen richtig gestellt hat: Neue Luft (fast provozierend unspektakulär, bis es am Ende an Kraft gewinnt), Neuanfang und Halb So Wild eröffnen die Show in Leipzig, sofort ist Harmonie angesagt und Clueso nutzt das Einverständnis mit dem Publikum, um ein paar inspirierte Ausflüge zu wagen. Keinen Zentimeter beginnt mit einer Boombox-Einlage und endet mit einer improvisierten Passage samt Saxofonsolo. Anderssein, einer von mehreren erfreulichen Gastauftritten von Kat Frankie, bekommt einen Hauch von Freestyle-Dancehall, Jeder lebt für sich allein entwickelt eine Intensität, die man in einer Arena nie hinbekommen könnte.

Die stärksten Songs funktionieren auch ohne Innovation, vor allem für die Balladen gilt das an diesem Abend. Erinnerung klingt so klasse wie nie, Wenn du liebst würde jede Location und jede Zeit überdauern. Sogar Es brennt wie Feuer, seine Version von Bruce Springsteen’s I’m On Fire, lässt man Clueso durchgehen – immerhin hat er in der Ansage erzählt, dass er in der Probe manchmal seine Lieblingslieder covert (aktueller Favorit: Anderson Paak), sie aber nie live spielt, weil sein Englisch so schlecht ist.

Solche Geständnisse tragen natürlich zum Charme des Konzerts bei, ebenso wie die Stimme von Clueso, der in Leipzig ein bisschen heiser ist: Das passt in die Jahreszeit und steht ihm gut. Es fällt sehr leicht an diesem Abend, ihn sympathisch zu finden, es fällt auch leicht, sich mit einem Künstler zu freuen, der offensichtlich kurz vor dem Absturz in die totale Peinlichkeit noch einmal die Kurve gekriegt hat. Auch das kann beim Freidrehen passieren: DIe Zentripetalkraft kommt zum Tragen – und ein Körper bewegt sich immer mehr zur eigenen Mitte hin.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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