Blog / Ich

Der große Weihnachtstest zum Weihnachtsfest

Ich habe es geschafft, in diesem Jahr erst ein einziges Mal Last Christmas zu hören. Ich muss zugeben, dass dieser erstaunliche Wert damit zu tun hat, dass ich etliche Risikofaktoren eliminiert habe. Ich höre kein Radio. Die Geschenke, die ich an Heiligabend unters Volk bringen werde wie ein bartloser, mützenloser, seltsamerotehoseloser (aber immerhin Coca Cola trinkender) Santa, kommen komplett aus dem Internet. Und Weihnachtsfeiern gehe ich erst recht aus dem Weg.

Neben der allgemein tödlichen Penetranz von Last Christmas löst jeder Kontakt mit dem Lied aber noch eine weitere schmerzhafte Reaktion bei mir aus. Ich frage mich, warum der popmusiktätige Teil der Menschheit nicht in der Lage ist, mal ein paar neue Weihnachtslieder hinzubekommen, die den Advent ein bisschen abwechslungsreicher machen. In diesem Jahr ist die Rettung nahe. Kelly Clarkson, Erasure, Leona Lewis und Michael Schulte haben sich meines Problems angenommen und jeweils ein Weihnachtsalbum aufgenommen. Die gute Nachricht vorab: Nur auf einem davon ist Last Christmas enthalten. Hier die handliche Übersicht über die anderen wichtigen Faktoren, aufgeteilt in zwölf handliche Kategorien.

Erstaunlich schmissiger Soul ist das wichtigste Genre auf "Christmas, With Love". Leona Lewis – Christmas, With Love
Was der Weihnachtsmann ihr bisher beschert hat Seit ihrem Durchbruch 2007 hat die 28-Jährige mehr als zwanzig Millionen Platten verkauft.
Spielzeit 32:51 Minuten
Weihnachtlichkeit (gemessen in der Anzahl der Nennungen des Wortes „Christmas“ auf diesem Album) 61
Andere wichtige Weihnachtswörter Snow Man, Mistletoe
Anteil der Eigenkompositionen 30 Prozent
Erstaunlichste Coverversion White Christmas. Das Lied wird hier zum Soulschmachtfetzen à la Otis Redding, im Walzertakt und mit tollen Bläsern. Bis auf den Text ist das kaum wiederzuerkennen.
Bestes eigenes Lied Die Single One More Sleep hat das Zeug zum künftigen Klassiker. Es gibt den durchaus schmissigen Soul-Sound, der auch den Rest des Albums (produziert übrigens von Biff Stannard und Ash Howes, die auch schon für Kylie Minogue oder die Spice Girls im Einsatz waren) prägt. Es gibt einen Chor, ein paar Glöckchen und die zeitlose Botschaft, dass ganz oben auf dem Wunschzettel manchmal einfach die Hoffnung steht, dass der Liebste bald wieder nach Hause kommt.
Klingen die Glöckchen auf dieser Platte? Aber hallo!
Wie glaubwürdig wäre sie als Weihnachtsmann? Wie man auf dem Cover sieht: nicht sehr glaubwürdig.
Weihnachtlich angemessene Menschenliebe (gemessen in der Anzahl der Wörter bei „Thank you“ im Booklet) 1262
Motivation zur Aufnahme einer Weihnachtsplatte „Ich hatte in diesem Jahr unglaublich viel zu tun. Ich war auf Tour, im Studio und ich habe meinen ersten Film gedreht. Aber ich kann es nicht erwarten, mich an Weihnachten auf eine Bühne zu stellen und diese Songs zu singen. Ich hatte großen Spaß im Studio und das hört man dem Album auch an.“
Erasure wagen sich mit "Snow Globe" an ein Weihnachtsalbum. Erasure – Snow Globe
Was der Weihnachtsmann ihnen bisher beschert hat 24 Top-40-Hits in Folge in den Jahren 1986 bis 2007 in England, insgesamt mehr als 25 Millionen verkaufter Alben.
Spielzeit 44:52 Minuten
Weihnachtlichkeit (gemessen in der Anzahl der Nennungen des Wortes „Christmas“ auf diesem Album) 15
Andere wichtige Weihnachtswörter Yuletide, Santa
Anteil der Eigenkompositionen 38,46 Prozent
Erstaunlichste Coverversion Silent Night. Der Song ist ein gutes Beispiel dafür, wie es Erasure auf Snow Globe schaffen, selbst die naheliegendsten Klassiker noch in etwas Eigenes zu verwandeln. Ein bisschen Elektronik im Hintergrund sorgt für viel Spannung, die Atmosphäre steigert sich schleichend, als könne das Lied in jedem Moment explodieren und sich mit einem satten Beat in einen Chicago-House-Track verwandeln – was es dann glücklicherweise aber nicht tut.
Bestes eigenes Lied Loving Man. Der Track steht Klassikern wie Blue Savannah kaum nach, mit einem straighten Beat, einer verspielten Melodie und dem makellosen Gesang von Andy Bell. Der Weihnachtsbezug ist aber allenfalls vage, in Zeilen wie diesen: “I’m a boy, I’m a girl / who has everything / Don’t need no gold rings, no diamonds / they won’t keep me warm”.
Klingen die Glöckchen auf dieser Platte? Ein bisschen.
Wie glaubwürdig wären sie als Weihnachtsmann? Nicht sehr. Andy Bell fehlt eindeutig die tiefe Stimme und Vince Clarke hat nicht mal den Ansatz eines Rauschebartes.
Weihnachtlich angemessene Menschenliebe (gemessen in der Anzahl der Wörter bei „Thank you“ im Booklet) 73
Motivation zur Aufnahme einer Weihnachtsplatte „Ehrlich gesagt war das die Idee unseres Managers“, hat mir Vince Clarke im Interview verraten. „Ich war davon am Anfang nicht sonderlich überzeugt. Es gibt so viele Weihnachtslieder, die man schon eine Million Mal gehört hat. Es ist sehr schwierig, sie noch einmal ganz neu klingen zu lassen, ihnen einen unverwechselbaren Charakter zu geben – aber genau das war unser Ziel. Ich denke, dass wir das hinbekommen haben. Aber Snow Globe wird sicher unser einziges Weihnachtsalbum bleiben.“
Wrapped In Red Kelly Clarkson – Wrapped In Red
Was der Weihnachtsmann ihr bisher beschert hat Drei Grammy Awards, vier American Music Awards, drei MTV Video Music Awards und zwölf Billboard Music Awards, weltweit mehr als zwanzig Millionen Platten verkaufte Platten.
Spielzeit 51:51 Minuten
Weihnachtlichkeit (gemessen in der Anzahl der Nennungen des Wortes „Christmas“ auf diesem Album) 55
Andere wichtige Weihnachtswörter Santa, Mistletoe
Anteil der Eigenkompositionen 31,25 Prozent
Erstaunlichste Coverversion White Christmas. Kelly Clarkson holt es in die Lounge und schafft es tatsächlich, dieses extrem verstaubte Ding innig und sexy klingen zu lassen. Das ist genau das Lied, das die einsamen Herzen hören wollen, die Heiligabend allein an der Hotelbar verbringen.
Bestes eigenes Lied Die Single Underneath The Tree könnte das Lied sein, zu dem Lily Allen um ihren Weihnachtsbaum tanzt (deren Kompagnon Greg Kurstin hat es auch mitgeschrieben). Natürlich gibt es Glocken und viele Klischees, trotzdem ist Underneath The Tree zackig und frisch. Und damit übrigens durchaus typisch für Wrapped In Red, das es wiederholt schafft, einfach gute Popsongs abzuliefern, die immer toll gesungen und mitunter sogar tanzbar sind.
Klingen die Glöckchen auf dieser Platte? Sie könnten in einem Disney-Film nicht schöner klingen.
Wie glaubwürdig wäre sie als Weihnachtsmann? Auf der Rückseite des Covers versucht sich Kelly Clarkson immerhin schon einmal an einer roten Kapuze. Trotzdem: keine Chance.
Weihnachtlich angemessene Menschenliebe (gemessen in der Anzahl der Wörter bei „Thank you“ im Booklet) 468
Motivation zur Aufnahme einer Weihnachtsplatte „Ich bin extrem begeistert, mein erstes Weihnachtsalbum zu veröffentlichen. Ich liebe Weihnachtsmusik und es war ein Riesenspaß, die Songs zu schreiben und aufzunehmen. Ich kann es kaum erwarten, dass alle sie zu hören bekommen.“
My Christmas Classics Michael Schulte – My Christmas Classics
Was der Weihnachtsmann ihm bisher beschert hat Platz drei bei The Voice Of Germany 2012.
Spielzeit 43:46 Minuten
Weihnachtlichkeit (gemessen in der Anzahl der Nennungen des Wortes „Christmas“ auf diesem Album) 28
Andere wichtige Weihnachtswörter Sleigh, Bells
Anteil der Eigenkompositionen 8,33 Prozent
Erstaunlichste Coverversion Jingle Bells. Mit Banjo, Slidegitarre und Countrybeat macht diese Interpretation deutlich, dass auch in Nashville (wo selbst im Dezember nur sehr selten Minusgrade erreicht werden) ganz offensichtlich Weihnachten gefeiert wird.
Bestes eigenes Lied Es gibt auf My Christmas Classics nur eine Eigenkomposition, nämlich What Christmas Is About. „Wie man im Songtext hören kann, geht es mir zu Weihnachten vor allem darum, ein paar besinnliche Tage mit meiner Familie zu verbringen, alles andere um mich rum zu vergessen, Weihnachtslieder zu hören und die winterliche Dunkelheit in unserem schön geschmückten Haus ausblenden zu können“, sagt Michael Schulte dazu. Entsprechend belanglos plätschert das Lied dahin, als hätte jemand die Hooters gezwungen, sich in rote Kostüme und hässliche Stiefel zu zwängen und dann für eine Horde quengelnder Kinder zu singen. „It’ christmas time / and all that I need is love“, lautet das wenig überzeugende Bekenntnis im Refrain.
Klingen die Glöckchen auf dieser Platte? Nein, es gibt lediglich ein Glockenspiel.
Wie glaubwürdig wäre er als Weihnachtsmann? Die Frisur stimmt, aber am Bart muss Michael Schulte noch arbeiten.
Weihnachtlich angemessene Menschenliebe (gemessen in der Anzahl der Wörter bei „Thank you“ im Booklet) 0. Buh!
Motivation zur Aufnahme einer Weihnachtsplatte „Generell haben wir uns bei jedem einzelnen Song hingesetzt und überlegt, wie wir ihn anders und neu gestalten können, so dass jeder Song auf dem Album in einer Version zu hören ist, die es so noch nicht gab“, sagt Michael Schulte. Seltsam ist allerdings, dass er auf diese Platte dann auch Songs wie Leonard Cohens Hallelujah, das Traditional Greensleeves oder Auld Lang Syne packt, die keineswegs Weihnachtslieder sind.

Fazit: Es gibt Weihnachtslieder jenseits von Last Christmas, sogar richtig gute. Entscheidend für ein überzeugendes neues Weihnachtslied ist offensichtlich die Begeisterung, mit der man selbst dem Fest der Liebe begegnet. Wenn man nur schnell versucht, den Restruhm einer Castingshow noch halbwegs in klingende Münze zu verwandeln (Michael Schulte – auf dessen Album ist übrigens auch Last Christmas enthalten), ist man schon zum Scheitern verurteilt. Wenn man ein Comeback starten will und noch nicht genug Songs für ein komplett eigenes Album hat (Erasure), klappt das schon besser, auch wenn man dann bei ein paar Liedern die Idee von Weihnachten schon sehr großzügig interpretieren muss, um noch einen Bezug herzustellen. Wenn man im Prinzip für alles von Katy Perry zu Countryballaden zu Superbowl-Pathos zu haben ist und ein paar sehr talentierte Mitstreiter hat (Kelly Clarkson), dann kann man auch mit einem Weihnachtsalbum nichts falsch machen. Und wenn man verdammt toll singen kann, die nötige geschmackvolle Begleitung und eine Vorliebe für die Festive Season à la Motown hat (Leona Lewis), dann bekommt man eine richtig feine Weihnachtsplatte hin.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.