Lonnie Holley Oh Me, Oh My Review Kritik

Futter für die Ohren mit Lonnie Holley, Temples, Fruit Bats, Future Franz, Maeckes und Acid.Milch&Honig

Lonnie Holley Oh Me, Oh My Review Kritik
Lonnie Holley arbeitet diesmal mit Jacknife Lee. Foto: David Raccuglia / Cargo Records

Lonnie Holley zählt sicher zu den ungewöhnlichsten Künstlern, die man in der amerikanischen Musikszene derzeit finden kann. Das liegt an seiner Herkunft aus den Südstaaten, wo er inmitten von Vernachlässigung und Missbrauch (und reichlich abenteuerlichen Geschichten) aufgewachsen ist. Es liegt an der Tatsache, dass sich der 72-Jährige zunächst vor allem mit bildender Kunst einen Namen gemacht hat, wozu Ausstellungen im Met, im Smithsonian und im Frühjahr 2023 auch in der Londoner Royal Academy gehören, dort werden seine Werke im Rahmen der Ausstellung “Souls Grown Deep Like The Rivers” zu sehen sein, die schwarze Künstler aus dem Südosten der USA zeigt. Und natürlich liegt es an seinen stets ebenso spontan entstehenden wie tiefgründigen Texten und seiner einmaligen Stimme, die auch auf Oh Me, Oh My (***) zu hören ist, dem Vorboten seines gleichnamigen Albums, das am 10. März herauskommen wird. Als Gast hat Lonnie Holley, der zuletzt 2018 das Album MITH und 2021 eine Kollaboration mit Matthew E. White veröffentlicht hatte, einen weiteren Künstler dabei, dessen Stimme durch Mark und Bein geht: Michael Stipe. Zudem werden auf der Platte auch Sharon Van Etten, Moor Mother, Justin Vernon von Bon Iver und Rokia Koné zu hören sein. Produziert hat – eine weitere Verbindung zu R.E.M., ebenso beispielsweise zu The Cure oder den Wombats – Jacknife Lee. Die von ihnen für die neue Platte benannten Einflüsse wie Brian Eno, Laurie Anderson, Gil Scott-Heron und Sun Ra kann man im Titeltrack tatsächlich gut erkennen. Alles ist wie schwebend, in Form gehalten vor allem von einem dezenten Klavier und etwas Kontrabass. “We learn how precious life is”, lautet eine der Zeilen, und die Botschaft von Lonnie Holley ist, dass es deshalb umso mehr gilt, die Möglichkeiten zu ergreifen und das Miteinander auf Erden zu genießen: „The deeper we go, the more chances there are / for us to understand the oh-me’s and understand the oh-my’s.” Der Künstler sagt dazu: “Meine Kunst und meine Musik sind immer eng mit dem verbunden, was um mich herum passiert, und die vergangenen Jahre haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Wenn ich mir diese Songs anhöre, spüre ich die Zeiten, die wir durchlebt haben. Ich bin den Mitwirkenden sehr dankbar, besonders Jacknife, der den Songs geholfen hat, Form anzunehmen und mich wirklich inspiriert hat, tiefer in mir selbst zu graben.”

Einen höchst prominenten Namen haben auch Temples für die Produzentenrolle ihres neuen Albums verpflichten können: Exotico entstand unter der Regie von Sean Ono Lennon und wurde größtenteils in dessen Studio im Bundesstaat New York aufgenommen. Mit ihm hatte die Band aus den East Midlands schon bei der 2020er Single Paraphernalia gearbeitet, für das vierte Album des Quartetts wurde das nun fortgesetzt. Einen ersten Einblick in die Resultate liefert die Single Gamma Rays (***1/2). “Es klingt wie ein fröhlicher Sommer-Song über das Eintauchen in die Sonne, aber die Wahrheit ist, dass das Eintauchen in Gammastrahlen einen umbringt”, erzählt die Band zum Hintergrund des Stücks, das von einem sehr guten und erstaunlich plakativen Groove getragen wird und (auch durch das spaßige Video) keinen Zweifel daran lässt, wie sehr Temples weiterhin das gemeinsame Musizieren genießen. “Es geht also um diese Gegenüberstellung von Schönheit und Gefahr, die wir oft in der Natur finden.” Auch für das Album haben sie ein recht elaboriertes Konzept, Exotico steht dabei für eine utopische Insel. “Die Idee der Platte ist, dass wir die Leute an einen Ort bringen, den sie noch nie erlebt haben, ein wunderschönes Ziel, das für alle gedacht ist”, erzählt Sänger und Gitarrist James Bagshaw. Besuche auf der Insel sind ab 14. April möglich, dann wird die neue Platte in den Läden stehen.

Die Verbindung zwischen Temples und Future Franz liegt auf der Hand: Beide mögen Hawaiihemden. Der Mann, der bürgerlich Daniel Strohäcker heißt, hat sich für seine neue Single als Gast Maeckes eingeladen, für den er auch schon früher (damals noch unter dem Namen Äh, Dings) produziert hat. Die Realität (Gerät Durcheinander) (***1/2) stellen sie nun gemeinsam fest, Future Franz hat dabei wie immer von Komposition bis zur Videoproduktion alles in der eigenen Hand gehabt. Herausgekommen ist ein äußerst schicker Clip, der sich an der impressionistischen Ästhetik von Claude Monet orientiert, und ein Track, der mit einer schönen Gitarrenfigur, etwas Yacht-Rock-Feeling und einer klugen Gegenwartsbetrachtung rund um die Erkenntnis “Keinen Plan mehr, worauf die Realität fußt” glänzt. Das ist so gewitzt, dass es nicht einmal plump wirkt, wenn ganz am Ende des Stücks die einzelnen Soundelemente tatsächlich durcheinander geraten.

Ein Jubiläum feiert Eric D. Johnson: Mit seinem Alias als Fruit Bats veröffentlicht er am 14. April sein zehntes Album, und er hat bei den Sessions nördlich von San Francisco zur Feier das Tages erstmals selbst produziert. Das Werk wird A River Running To Your Heart heißen und elf Tracks enthalten, die sich vor allem mit der Frage beschäftigen, was Heimat ist. “Im Laufe der Jahre gab es in meiner Musik viele geografische Elemente, viele Landschaften. Manchmal sind die Orte real, manchmal sind sie emotional. Ich mochte schon immer die Idee von Songs und Alben, die in einem Kontinuum zueinander stehen. Ich spreche nicht von einer Art tiefgründiger Serie von Konzeptalben, wohlgemerkt. Eher von der Idee, dass meine Songs alle so etwas wie Nebenflüsse desselben Flusses sind”, sagt er dazu. “Die Songs existieren in einer Welt, in der man sozusagen von einem zum anderen reisen kann. Es gibt Straßen und Flüsse zwischen diesen Liedern.” Passenderweise kommt ein solcher Fluss nicht nur im Titel des Albums vor, sondern auch in dem der Lead-Single Rushin’ River Valley (****). Der Song hat Schwung, Leichtigkeit und Romantik (eine wichtige Inspiration für Johnson waren Bilder aus der Heimatstadt seiner Frau) wie ein guter Moment von Tom Petty. “In diesem Lied geht es um die wahre Liebe und die Frage, ob es unser Schicksal ist, zusammen zu sein, oder ob alles nur ein universelles Chaos ist, das uns durcheinander wirbelt”, verrät Johnson. “Es geht auch um Geister und schlechte Träume und den Versuch, vorwärts zu kommen und über einen Berg zu klettern und zu hoffen, die andere Seite zu sehen.”

Shitesite hat natürlich ein Herz für Musiker*innen aus Leipzig, wo Acid.Milch&Honig schon lange aktiv ist. Wer noch keine seiner sagenumwobenen Shows erlebt hat (die bevorzugt in besetzten Häusern und anderen inoffiziellen Locations stattfinden), wird den Künstler kaum kennen, denn bisher gab es nicht eine einzige Note von ihm auf Tonträger oder in den gängigen Streaming-Diensten. Mit der Single Weiße Stadt (****) und dem für dieses Jahr angekündigten Debütalbum wird sich das ändern. „In tausend Jahren bleibt von deiner Stadt nur kalter Staub!”, lautet zu famosem Electropunk (das Presseinfo zur Single legt die Konstellation “Egotronic im Duett mit H.P. Baxxter” oder auch “Helge Schneider auf Ecstasy” nahe) der Hinweis, den er all jenen entgegenschleudert, die ein schönes Zuhause in erster Linie über gemähten Rasen, geputzten SUV im Carport und Architektur in Reih und Glied definieren. Natürlich zeigt Acid.Milch&Honig hier im Umkehrschluss mit einer Akustik-Gitarre wie aus der Latin-Lover-Hölle und einem erstaunlich gut funktionierenden Bums-Beat auch, was man als Outlaw in den Ecken (auch von Leipzig) noch immer erleben kann, die nicht weißgetüncht sind.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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