Haiyti – “Nightliner”

Künstler Haiyti

Nightliner Haiyti Review Kritik
“Nightliner” war Haiytis zweites Mixtape innerhalb eines Jahres.
Album Nightliner
Label Katamaran Music
Erscheinungsjahr 2016
Bewertung

Ronja Räubertochter war das letzte große Werk von Astrid Lindgren. 1981 erschien dieses Kinderbuch und wurde sofort ein großer Erfolg. Drei Jahre später kam die Verfilmung in die deutschen Kinos, und seitdem ist Ronja auch in Deutschland ein sehr populärer Mädchenname. In der Liste der am meisten vergebenen Namen für weibliche Neugeborene steht Ronja meist zwischen Platz 50 und 100. Insgesamt dürften, seit das Buch erschienen ist, hierzulande knapp 30.000 Mädchen so genannt worden sein. Eins davon ist Ronja Zschoche aus Hamburg, die sich selbst nach mehreren anderen Künstlernamen nun Haiyti nennt und mit Nightliner ihren vierten Release (nach dem gefloppten Debütalbum Havarie 2015, dem im Jahr darauf erschienenen Mixtape City Tarif und der folgenden EP Toxic) vorlegt.

Was die Eltern aller Ronjas dabei im Sinn haben (wenn man die naheliegende Verbindung zur Geschichte von Astrid Lindgren unterstellt), liegt auf der Hand: Ihr Kind soll ein Wildfang werden. Sie wünschen sich ein Mädchen, das durch den Wald tollt, Abenteuer erlebt, im Zweifel auch bei einer Prügelei gewinnt. Das ist allerdings ein Missverständnis: Wer die literarische Figur etwas genauer betrachtet, erkennt schnell: Ronja Räubertochter ist viel weniger wild als der Rest ihrer Familie. Sie ist vergleichsweise vernünftig und versöhnlich. Sie will ihren eigenen Weg gehen, aber nicht mit den Mitteln, die von ihr erwartet werden, sondern im Zweifel auch, indem sie sich mit dem Feind verbrüdert.

Für Haiyti könnte dieser Geburtsname trotzdem kaum besser passen, denn sie vereint letztlich beide Facetten. Nightliner ist versöhnlich und ausgleichend in dem Sinne, dass sie sehr verschiedene Spielarten von Rap vereint. Es gibt bei ihr viel Kraft und Energie wie in Playboykette, ebenso reduzierte Momente wie Echte Waffen im Cloudrap-Sound. Webcamgirl ist geprägt von seinen Stimmeffekten, Geld, Taxis, Hotel preist zu Elektrobeats einen Party-Lifestyle, den man notfalls auch ohne Geld haben kann, Fata Morgana ist atmosphärisch sehr stark, auch durch den Gast-Rap von Skinny Voyou Finsta.

An Lust auf Abenteuer lässt es die Hamburgerin auch nicht mangeln, natürlich auch nicht an der nötigen Durchsetzungsfähigkeit. Kampfhund im Club (feat. GPC) eröffnet das Mixtape als Trap-Kracher mit all den nötigen Gangster-Zutaten: Drogen, Sex, Ärger mit der Polizei, Bock auf Gewalt. Ein Track wie Halleluja (mit Why SL Know Plug) strahlt eine sagenhaft große Kälte und Entschlossenheit aus. Auch sonst schafft es Haiyti mühelos, Vorbildern wie meinetwegen Haftbefehl in puncto Materialismus, Protzen und Selbstinszenierung in nichts nachzustehen.

Was sie dabei auszeichnet, ist ein großer Wiedererkennungswert in Stimme und Produktion (die Beats auf Nightliner stammen unter anderem von AsadJohn und MVLIGNXM), zugleich die Tatsache, dass sie in ihrer Gangster- und Gossen-Attitüde zwar glaubwürdig ist, aber nicht bierernst und auch nicht eindimensional. Es gibt bei ihr auch Gefühle jenseits von Aggro, etwa in Globus. Der Track behandelt den Traum vom Fliehen, gemeinsam mit dem Liebsten, irgendwohin auf der Welt. Emo Trap nennt sie das, und auch Fast verliebt verbreitet eine ähnliche Ghetto-Romantik.

Fiorucci (mit Skinny Voyou Finsta) macht deutlich, dass sich ihr Selbstbewusstsein natürlich nicht nur aus Markenklamotten und harten Jungs im Freundeskreis speist, auch das gelungene Crime Life erweist sich als Moment der Selbstreflexion. Im abschließenden Hier hört man sogar ein bisschen von der Einsamkeit, die ohne die Gang droht, und die sie offenkundig auch schon erlebt hat. In diesem Text schlummert somit auch die Erkenntnis: „Ich genüge mir alleine nicht.“

Leider ist nicht alles auf Mixtape so gelungen, neben dem unvermeidlichen Auto-Tune-Overkill, dem sich kein Hip-Hop-Artist mehr entziehen zu können scheint, gibt es bei Haiyti gelegentlich auch Fehlgriffe, schlechte Reime oder Momente, in denen sie jenseits von Attitüde nicht viel zu bieten hat. Mon Cheri ist so ein Schwachpunkt: Gemeinsam mit Joey Bargeld und zu einem bloß soliden Boombap-Backing wirft sie ein paar französische Brocken um sich und merkt nicht, dass das weder einen Song noch irgendeine Art von Flair ergibt.

Was auf Nightliner an Klasse fehlt, gleicht Haiyti aber fast immer mit Ungestüm und Eigenständigkeit aus. Ronja wäre wohl stolz gewesen.

Protzen funktioniert auch im Video zu Halleluja gut.

Website von Haiyti.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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