Heaven Shall Burn – “Of Truth And Sacrifice”

Künstler Heaven Shall Burn

Heaven Shall Burn Of Truth And Sacrifice Review kritik
“Of Truth And Sacrifice” ist Heaven Shall Burns Gegenentwurf zum EP-Trend.
Album Of Truth And Sacrifice
Label Century Media
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

So sieht in der Welt von Heaven Shall Burn also Faulenzen aus: Eigentlich wollten Sänger Marcus Bischoff, Bassist Eric Bischoff, Schlagzeuger Christian Bass sowie die beiden Gitarristen Maik Weichert und Alexander Dietz nach Wanderer und der dazugehörigen Tour eine Pause machen. Jetzt, nicht einmal zwei Jahre später, sind die Metal-Aushängeschilder aus Thüringen zurück, mit einem Werk namens Of Truth And Sacrifice, das 19 Songs mit einer Gesamtspielzeit von fast 100 Minuten enthält, und dazu noch einer Filmdokumentation namens Mein grünes Herz in dunklen Zeiten, die mit Regisseur Ingo Schmoll entstanden ist.

„Wir haben durchaus Pause gemacht. Eine Weile lang hat sich jeder um seinen Kram gekümmert”, betont Maik Weichert. “Aber wir sind halt privat immer noch sehr gute Freunde. Wenn Polizisten einen Stammtisch haben, reden die ja auch unweigerlich über Verbrecher.“ Das bedeutet also: Auch ohne feste Band-Termine haben Heaven Shall Burn noch Bock aufeinander, und wenn sie sich sehen, wird Musik gemacht. Das erklärt auch das in diesen Zeiten gewagt anmutende Format eines Doppelalbums. „Ich weiß natürlich, dass aktuell alle nur EPs machen, um immer ganz fresh in den Streaming-Playlists dabei zu sein. Wir aber wollten den Leuten ganz bewusst so einen Brocken hinstellen, mit dem sie sich beschäftigen müssen“, sagt Maik Weichert.

Die erste Hälfte, Of Truth, soll für Tatkraft und Optimismus stehen, Of Sacrifice ist hingegen “eher nachdenklich und befasst sich mit den Opfern und Kämpfen, die man für die Wahrheit bereits auf sich genommen hat und auch künftig nicht scheuen wird“, erklärt der Gitarrist das Konzept des neuntes Studioalbums der Band, das über einen Zeitraum von fast zwei Jahren entstanden ist und Gastauftritte von Chris Harms (Lord Of The Lost), Andreas Dörner (Caliban) und Matthi (von der belgischen Band Nasty) bietet. Die Sache mit der Wahrheit und dem Kampf darum hat dabei natürlich auch eine politische Dimension. „Ich nehme es aktuell so wahr, dass viele Leute ganz froh sind, aus verschiedenen alternativen Wahrheiten wählen zu können, weil sie sich dann für die Version der Wahrheit entscheiden können, die am wenigsten Auswirkungen auf ihr eigenes Leben hat“, sagt Maik. „Ich habe einen Haufen Freunde bei Facebook und im richtigen Leben, die überhaupt nicht ideologisch auf meiner Linie stehen“, sagt er. „Aber mit denen bin ich teilweise aufgewachsen, und wenn ich denen jetzt auch noch die Freundschaft kündige, haben sie überhaupt niemanden mehr, der ihnen auch mal eine andere Meinung nahebringt. Das will ich einfach nicht, denn dann haben die Menschenfänger von der AfD gewonnen. Die wollen die Leute ja separieren.“

Wer das jetzt straight findet, hat Recht, und wird im Sound von Of Truth And Sacrifice natürlich umgehend bestätigt. Der instrumentale March Of Retribution ist dabei so etwas wie ein Intro: Schon, als nur die Gitarre zu hören ist, klingt es wie ein Alarm, als der Rest der Instrumente einsetzt, gilt das erst recht. Das folgende Thoughts And Prayers klingt entsprechend nach Attacke, die Double Bass und die Stimme sind dabei die Anführer. Die Gitarren scheinen eher, wie später auch der Chor, auf ein melodiöses Gegengewicht aus zu sein, trotzdem ist das in Summe so aggressiv, dass man erst einmal durchschnaufen muss, als der Song nach ziemlich genau fünf Minuten vorbei ist.

So viel Energie findet man auf der ersten Hälfte des Doppelalbums immer wieder. In My Heart And The Ocean hätte es gar nicht der entsprechenden Textzeile bedurft, um zu zeigen, dass in beiden ein Sturm tobt. Die Antwort auf What War Means lautet natürlich: nichts Gutes – und auch das versteht man, ohne auf den Text zu hören. “We are your nemesis”, lautet die Drohung in Eradicate, das eine besondere Stärke von Heaven Shall Burn unterstreicht: Selbst halsbrecherische Geschwindigkeit wird hier niemals im Gleichschritt umgesetzt, sondern mit Varianten links und rechts. Mit anderen Worten: Diese Band hat verstanden, was Finesse ausmachen kann.

In Protector zeigen die Gitarren das ganze Spektrum dessen, was sie können. “Don’t be afraid / I’m by your side”, singt Marcus Bischoff, und bei einer Stimme wie seiner klingt das nicht wirklich beruhigend, bis er seine Rolle etwas präziser beschreibt “I am your shield and sword”. Ein Song wie Terminate The Unconcern zeigt, dass sich diese Musik zwar seit den Anfangstagen von Metallica nicht groß verändert, aber auch nichts von ihrer Wirkung verloren hat. Übermacht setzt auf etwas Elektronik zu Beginn, aber dann auf eine volle Breitseite an GitarreSchlagzeugBassGeschrei. Auch, weil der Text hier Englisch und Deutsch mischt, kann man da an Rammstein denken.

Expatriate wird fast 9 Minuten lang, die ersten zweieinhalb davon sind beschaulich und geradezu klassisch (allerdings hat die Klaviermelodie eine irritierende Ähnlichkeit zu Mit Leib und Seele von Heinz Rudolf Kunze). Dann folgt ein gesprochener Rapport zu einem deutlich härteren Sound, auch wenn es nicht ganz so heavy wird wie in vielen anderen Songs des Albums. Diese beiden Elemente (und auch hier wieder Strophen auf Deutsch und Englisch) wechseln sich dann immer wieder ab – als Konzept ist das nicht nur überraschend, sondern auch gelungen. The Ashes Of My Enemies schließt Teil 1 als schönes Streicher-Stück mit cineastischem Charakter ab. Diese und andere Orchesterpassagen haben Heaven Shall Burn in Minsk mit dem Dirigenten Wilhelm Keitel und dem Komponisten Sven Helbig aufgenommen, der Mitbegründer der Dresdner Sinfoniker ist und auch schon mit Rammstein und den Pet Shop Boys gearbeitet hat.

Children Of A Lesser God eröffnet den zweiten Teil, den Titel bezieht die 1996 gegründete Band auf sich selbst, und man hört den Frust und das Aufbegehren, das mit so einer Kategorisierung einher geht. Der eher introvertierte Charakter von Of Sacrifice findet sich auch danach nicht in einem softeren Sound, sondern eher in den Texten. So klingt Stateless, als sei Punk nicht von Menschen erfunden worden, sondern von Monstern. Truther ist mit gut 160 Sekunden eines der kürzesten Stücke der Platte und wirkt auch deshalb noch direkter und brutaler, vor allem am Ende. Eagles Among Vultures lässt keinen Zweifel daran, dass beide hier genannten Greifvögel zu den Fleischfressern gehören, in Critical Mass ist deutlich mehr Wut und Wucht erkennbar als bei der gleichnamigen Protestform von Radfahrern (die hier natürlich nicht besungen wird).

The Sorrows Of Victory hat ein sehr stimmungsvolles Gitarren-Intro, das auch in die Grunge-Ära gepasst hätte, dann singt Marcus Bischoff plötzlich mit einer tiefen Stimme, die den Song etwas pomös und theatralisch wirken lässt, aber auch das dramaturgische Geschick bei Heaven Shall Burn illustriert. La resistance ist deutlich direkter (man kann auch sagen: plumper) als der Durchschnitt von Of Truth And Sacrifice, der Beat ist fast Techno, auch die simple Klaviermelodie wie aus einem Kinderlied, das elektronische Break und das im Chor gesungene “Oi” wecken hier wieder Erinnerungen an Rammstein. Deren Vorliebe für Kokettieren mit NS-Ästhetik hätte sicher auch Tirpitz gefallen: Der Song beginnt mit dem Sample der Schiffstaufe aus dem Jahr 1941, als dieses größte jemals in Europa gebaute Schlachtschiff in Dienst gestellt wurde.

Natürlich machen Heaven Shall Burn auch aus dieser Ausgangssituation ein Lied, das viel schneller und noch furchteinfößender ist als besagtes Kriegsschiff. Weakness Leaving My Heart schließt die Platte so ab, wie schon der erste Teil geendet hatte: Der Song wiegt den Hörer zunächst in Sicherheit, schickt ihn dann aber wieder dorthin, wo diese Band zuhause ist: ins Inferno.

Die Übermacht wird unter anderem durch Stelzen erreicht.

Website von Heaven Shall Burn.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.