Hingehört: Christina Aguilera – “Lotus”

Ihr altes Selbst will Christina Aguilera auf "Lotus" hinter sich lassen.
Ihr altes Selbst will Christina Aguilera auf “Lotus” hinter sich lassen.
Künstler Christina Aguilera
Album Lotus
Label Sony
Erscheinungsjahr 2012
Bewertung ***

Splitternackt ist Christina Aguilera auf dem Cover von Lotus zu sehen. Nichts umgibt sie als helles Licht, lange Haare über den Brüsten und eine wohl recht reichliche Dosis Photoshop. Dass die beinahe 32-Jährige auf der Hülle ihres Albums (wie man im Boulevard, und offensichtlich auch nur da, sagt) blank zieht, kann zwei Botschaften vermitteln. Erstens: Christina Aguilera befürchtet, gegen die Übermacht all der Rihannas, Lady Gagas oder Beyoncés nicht mehr anzukommen, wenn sie nicht zum ungeschlagen wirksamsten Mittel greift, um noch einmal selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Eine kalkulierte Skandal-Nacktheit, die letzte Vorstufe zum Sexvideo wäre das. Oder aber, zweitens: Christina Aguilera will deutlich machen, dass sie keinen Pomp und Glamour mehr braucht, nicht einmal Klamotten. Weil sie sich selbst gefunden hat und sich voll und ganz auf sich selbst verlassen will. Eine ebenso unschuldige wie offensive Nacktheit wäre das dann.

Die Wahrheit liegt auf Lotus, ihrem fünften Album, in der Mitte. „Das Album handelt von Freiheit und den Möglichkeiten, sich selbst auszudrücken“, sagt die fünffache Grammy-Gewinnerin, die bereits 30 Millionen Longplayer verkauft hat. „Ich habe in den letzten Jahren persönlich einiges durchgemacht und dieses Album zeigt nun meine Wiedergeburt. Sie handelt von der Rückkehr zu meinen Wurzeln – wer ich bin und was ich gerne mache.“ Von Beginn an thematisiert sie immer wieder das Erwachsenwerden, Sich-selbst-Finden, auch das Aufblühen.

„To the sky I rise / spread my wings and fly / I leave the past behind / and say goodbye to the scared child inside“, beteuert sie schon im Intro, das in Sachen Programmatik, Selbstvertrauen und auch in seinem Mut (ein reduzierter Beat und verfremdeter Gesang geben hier den Ton an) durchaus mit Robyn mithalten kann. Auch Army Of Me gleich danach ist ein gutes Beispiel für ein neues, starkes Ego: Christina Aguilera singt über das schmerzliche Ende einer Beziehung, das aber längst nicht die Kraft haben wird, sie in die Knie zu zwingen. Mit der Musik gibt sie die Disco-Queen, die sich gar nicht allzu sehr ins Zeug legen muss, um alle Blicke auf sich zu ziehen, sondern von ihrer eigenen Souveränität zehren kann.

Wie sehr Christina Aguilera neben der Botschaft der eigenen Neuerfindung aber auch die aktuelle Pop-Konkurrenz im Blick hat, ist auf Lotus ebenfalls unverkennbar. Das wunderbare Red Hot Kinda Love klingt, als seien alle drei Sugababes der Urbesetzung zu einer einzigen Person und alle guten Ideen der Sugababes-Macher aus den letzten zehn Jahren zu einem einzigen Lied verschmolzen.

Die Single Your Body könnte als Versuch interpretiert werden, rihannaiger zu sein als Rihanna; auch aufgrund des Texts, der vom Versuch handelt, sich mit einem schnellen Flirt den Mann aus dem Kopf zu jagen, an den man sowieso schon lange nicht mehr denken will. Der Beat ist gut, der Refrain unsagbar plakativ und offensiv. Allerdings klingt das Ergebnis auch so kalkuliert und durchtrainiert, als hätte eine Unternehmensberatung die Charts der vergangenen zwei Jahre durchleuchtet und dann die rundumoptimierte Schnittmenge gebildet.

Viel besser funktioniert das thematisch ähnlich gelagerte (und ebenfalls von Max Martin mitgeschriebene) Let There Be Love. Man muss sich zwar wundern, dass in den Credits nirgends der Name „David Guetta“ auftaucht, so präsent ist der Sound des Franzosen hier. Trotzdem ist der Song ein Hit, der eine beinahe naive Begeisterung für elektronische Sounds und harte Computerbeats offenbart, wie man sie in den Anfangstagen von Eurodance in Tracks von Snap, Blue Pearl, Blackbox oder Rozalla (jawohl, diese Namen habe ich sämtlich auf alten Kassettenhüllen nachgeschlagen) hören konnte.

Cease Fire ist unverkennbar von M.I.A. inspiriert, inklusive eines Trommelinfernos im Hintergrund, das klingt, als würde eine Boombox gegen einen Drumcomputer in die Schlacht ziehen. Das mitreißende Around The World würde gut ins Repertoire von Beyoncé passen.

Freilich ist nicht alles ein Treffer. Circles ist ein völlig missratener Rock-Versuch: als würde ein sehr, sehr schlechter Lenny Kravitz auf eine unzurechnungsfähige Variante von No Doubt treffen; gekrönt von der, provokant!, Tatsache, dass X-Tina am Ende „motherfucker“ sagt. Zweimal. Auch das ambitionierte Best Of Me, das mit komplex verschachteltem Gesang, Marschtrommel und einem akustischen Break offensichtlich unbedingt vermeiden möchte, bloß eine gewöhnliche Ballade zu sein, überzeugt nicht ganz. Just A Fool ganz am Ende von Lotus wäre eine gute Rockballade (man könnte wetten, dass da Linda Perry ihre Finger im Spiel hatte, was aber nicht der Fall ist), wenn nicht Country-Star Blake Shelton das Lied mit einem blassen Auftritt in Richtung Beliebigkeit stürzen würde.

Make The World Move mit Cee-Lo Green klingt genau so, wie man sich ein Lied vorstellt, in dem zwei Coaches der US-Ausgabe von The Voice miteinander singen: Die Strophe ist mit ihrem Amy-Winehouse-Flair noch ganz brauchbar, doch im Refrain zündet so wenig, dass auch all die stimmliche Virtuosität nichts hilft. „If one voice can change a heart / imagine what two can do“, lautet eine Zeile zu Beginn, doch Make The World Move liefert leider nichts, was diese Fantasie beflügeln würde.

Auch Sing For Me leidet (wie andere Passagen auf Lotus) unter dem Effekt, dass Christina Aguilera vor lauter Können das Lied kaputtsingt. Die Ballade hat, abgesehen von ein bisschen Lana-Del-Rey-Wehmut am Schluss, ohnehin wenig Substanz. Aber Aguileras völlig übertriebene Stimmakrobatik im Refrain ruiniert auch die kleinste Hoffnung, dass dies der wirklich emotionale Moment werden könnte, als der er wohl gemeint ist. Trotzdem: Sing For Me ist wohl das Beautiful dieses Albums – das Lied, das sich die ganz Mutigen in den künftigen Generationen von Castingshowkandidaten heraussuchen werden, wenn sie beweisen wollen, was sie alles drauf haben.

Wirklich glänzen kann die Stimme auf Blank Page, in dem sie nur vom Klavier begleitet wird. Dann wird deutlich: Stimmlich stellt Aguilera fast alle Konkurrentinnen weiterhin mühelos in den Schatten. Rihanna mag besser aussehen, Beyoncé den talentierteren Ehemann haben, Lady Gaga den kreativeren Stylisten und Britney, ähm, naja. Aber Christina Aguilera hat dank ihrer Stimme nach wie vor das, wonach sich viele Möchtegern-Popdiven sehen: ein Alleinstellungsmerkmal.

Christina Aguilera spricht über Lotus:

httpv://www.youtube.com/watch?v=45BeiypB00s

Homepage von Christina Aguilera.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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