Sigur Rós – “Valtari”

Künstler Sigur Rós

Mit "Valtari" verabschieden sich Sigur Rós von klassischen Songstrukturen.
Mit “Valtari” verabschieden sich Sigur Rós von klassischen Songstrukturen.
Album Valtari
Label Emi
Erscheinungsjahr 2012
Bewertung

Finanzkrise hin, Nato-Mitgliedschaft her: Island ist für die meisten Menschen immer noch eine mythische Insel, mindestens so exotisch wie der brasilianische Regenwald, die Bergdörfer in Tibet oder der Frisurengeschmack von Mario Balotelli. Für Sigur Rós ist diese Herkunft Fluch und Segen zugleich. Das Quartett profitiert einerseits davon, seine geheimnisvollen Klangwelten mit noch geheimnisvoller klingenden Texten garnieren zu können. Andererseits ist es naheliegend, dass Sigur Rós nach fünf Studioalben sicherlich einigermaßen genervt davon sind, dass in quasi jeder Rezension über sie steht, sie machten Popmusik, die an nordische Götter und Elfen denken lässt, an Gletscher und Geysire.

Für das aktuelle Werk Valtari, das erste nach der selbstauferlegten Pause, die auf das 2008er Album Með suð í eyrum við spilum endalaust folgte, hat das Quartett deshalb einen neuen Weg gewählt. Sigur Rós machen weiterhin Lieder, die an nordische Götter und Elfen denken lassen, an Gletscher und Geysire. Aber sie machen nichts mehr, was auch nur ansatzweise in die Kategorie „Popmusik“ passen würde.

Im Gegensatz zu ihren bisherigen Songs, die sich normalerweise aus Proberaum-Jams entwickelt haben, wurde diesmal mit vielen kleinen Sound-Bausteinen gearbeitet, die dann in aufwendiger Studioarbeit zu einem Gesamtwerk zusammengefügt wurden. „Ich kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, warum wir diese Platte angefangen haben. Ich weiß auch überhaupt nicht mehr, was wir damals versuchen wollten. Was ich aber weiß: Eine Session nach der anderen ging daneben, wir verloren den Fokus und hätten beinah aufgegeben, was wir eigentlich auch für einige Zeit gemacht haben“, beschreibt Bassist Georg Holm den Entstehungsprozess. „Aber dann passierte irgendetwas und es kristallisierte sich etwas heraus. Jetzt kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass dies die einzige Sigur-Rós-Platte ist, die ich zu meiner eigenen Unterhaltung zuhause gehört habe, nachdem wir sie fertig hatten.“

Als Folge der neuen Arbeitsweise, die deutlich von den zahlreichen Sigur-Rós-Beiträgen für Filmsoundtracks inspiriert ist, gibt es keine Refrains mehr, keine Strophen, in Varðeldur, dem Titelsong und dem Rausschmeißer Fjögur píanó nicht einmal mehr einen Text. Das ist durchaus mutig. Denn Valtari (was übersetzt so etwas wie „Dampfwalze“ bedeuten soll) hat eine ganz eigene Anziehungskraft, dürfte etliche Fans aber auch vor große Rätsel stellen.

Der Opener Ég anda erklärt gut, wie Valtari funktioniert: Es gibt eine Stimme, die vielleicht auch ein Chor ist. Es gibt Streicher, die vielleicht auch eine Orgel sind. Zum Schluss gibt es Trommeln, die vielleicht auch bloß eine malträtierte Gitarre sind. Alles bleibt verschwommen und versteckt, erst nach ziemlich genau 200 Sekunden beginnt Sänger Jón Þór Birgisson (den wir der Einfachheit halber lieber wieder Jónsi nennen) mit seinem Text. Fast immer passiert hier mehr im Hintergrund als in den Passagen, auf die an der Oberfläche gerade die Aufmerksamkeit gelenkt wird.

Man kann das bei aller Komplexität trotzdem niemals „sperrig“ nennen, denn dafür bleiben diese Klänge zu schwebend und majestätisch. Und gelegentlich schimmern auch die früheren Sigur Rós durch, was womöglich auch daran liegt, dass einige der acht Tracks auf alten Demos beruhen: Das himmlische Varúð entwickelt eine tolle Dramatik, das sehr hübsche Rembihnútur fasst den Zauber dieser Musik wunderbar zusammen.

Sigur Rós haben mit ihrem sechsten Studioalbum ein ganz neues Kapitel ihrer Karriere aufgeschlagen, womöglich das Album gemacht, das sie schon immer machen wollten, und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die einzige Möglichkeit genutzt, sich und ihr Publikum nicht schon sehr bald mit nordischer Traummusik aus dem Baukasten zu langweilen. Valtari ist sehr schön, vor allem aber sehr außergewöhnlich.

Auch exotisch: Die Wolken und Wellen im Video zu Ekki múkk:

httpv://www.youtube.com/watch?v=qdQ8KHer0cI

Sigur Rós bei MySpace.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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