Interview mit White Lies

White Lies aus London veröffentlichen in einer Woche ihr zweites Album Ritual. Gemeinsam mit meiner Kollegin Ines Weißbach habe ich Bassist Charles Cave und Schlagzeuger Jack Lawrence-Brown bei der Geburtstagsfeier von MDR Jump im Haus Auensee in Leipzig getroffen. Wir sprachen über Umarmungen, ganz normale Helden und die Unlust, sich selber zu sehen.

Euer neues Album heißt Ritual. Was ist ein Ritual für euch?

Lawrence-Brown: Wenn wir mit der Band unterwegs sind, gehört für mich zum Ritual, ziemlich spät aufzustehen. Dann kommt Harry [gemeint ist Harry McVeigh, der Sänger der White Lies] und steckt seinen Kopf für ein paar Minuten in mein Leben. Er nervt dann alle ein bisschen mit seinem Drum’N’Bass. Vor der Show trinken wir dann etwas und versuchen, etwas Gutes zu essen. Dann umarmen wir uns unmittelbar bevor es auf die Bühne geht. Das ist unser tägliches Ritual, wenn wir mit den White Lies auf Tour sind.

Ihr umarmt euch, bevor ihr auf die Bühne geht?

Lawrence-Brown: Ja, schon immer. Das ist Aberglaube. Ich weiß nicht genau, ob es einen Einfluss auf die Qualität unserer Show hat. Aber selbst wenn wir erkältet sind, so wie jetzt gerade: Wir umarmen uns trotzdem.

Apropos Aberglaube. Das zweite Album gilt als grundsätzlich schwierig für Bands. Wie war’s bei euch?

Cave: Wir haben keinen Druck verspürt. Wir konnten es eher kaum abwarten, endlich wieder Songs zu machen. Das war quasi Luxus und eine Zeit der Entspannung nach einer so langen Tour. Es war sogar entspannender, als einfach gar nichts zu tun.

Für immer mehr Bands ist es wegen der Krise der Plattenfirmen schon ein Luxus, überhaupt ein zweites Album machen zu können.

Cave: Auf jeden Fall. Wir haben aber nicht darüber nachgedacht, als wir das Album produzierten. Wir waren ziemlich selbstsicher, haben uns aber auch über die Möglichkeit eines zweiten Albums gefreut. Denn White Lies hatten vor Ritual genau zwölf Lieder als Band. Wir hatten viele Ideen und Inspirationen im Hinterkopf durch die Erlebnisse, die uns das erste Album beschert hat.

Hat die Tour nach dem Debüt To Lose My Life auch euren Musikstil beeinflusst? Es scheint, als stünde auf der neuen Platte der Rhythmus mehr im Vordergrund als bisher.

Lawrence-Brown: Wir haben auf der Tour viel gelernt und haben jetzt auch musikalisch andere Möglichkeiten. Bei hunderten von Shows in den vergangenen Jahren muss man auch auf seinem Instrument dazulernen. Wir haben außerdem viel andere Musik gehört, die uns beeinflusst hat.

Was für Musik?

Lawrence-Brown: Die Band, die mich in den vergangenen beiden Jahren am meisten beeinflusst hat, ist Talk Talk. Vorher wusste ich nicht sehr viel über diese Band. Sie hatten eine beeindruckende Karriere und wurden mit der Zeit immer abstrakter in ihrer Musik. Sie hatten kein Problem damit, hunderttausende Pfund vom Geld ihrer Plattenfirma für eine experimentelle Platte auszugeben. Ich hatte wirklich Spaß, das zu entdecken. Manche Lieder waren so ruhig und leise produziert, dass du kein Talk-Talk-Album im Zug hören kannst, weil du einfach nichts hörst.

Wollt ihr da auch hin, dass ihr in dreißig Jahren nur noch experimentelle Musik macht?

Lawrence-Brown: Es ist ziemlich schwer vorstellbar, welche Musik wir in dreißig Jahren spielen. Ich hätte einfach gern diese Freiheit und den Ehrgeiz, den Mark Hollis verströmt. Wir konnten aber jetzt schon bei unserer zweiten Platte so frei arbeiten wie wir wollten – und hatten auch den Ehrgeiz dazu.

Ihr habt Ritual mit Alan Moulder eingespielt. Er produzierte unter anderem die Nine Inch Nails, The Killers und die Smashing Pumpkins. Flößen solche großen Namen Respekt ein?

Cave: Er ist nicht ins Studio gekommen und hatte ein Nine-Inch-Nails-T-Shirt an. Er hält dir zum Glück seinen Lebenslauf und die legendären Alben, die er gemacht hat, nicht vor. Er glaubt nicht, dass er das alles einfach so nochmal reproduzieren könnte. Er will sich immer verbessern und sich selbst testen. Es ist schön, mit ihm zusammen zu arbeiten. Er ist ein sehr bescheidener Mensch und war interessiert daran, was wir zusammen schaffen können. Es gab keine bestimmten Erwartungen an die gemeinsame Arbeit. Wir hatten aber eine wunderbare Zeit.

Ihr seid also nicht nervös gewesen.

Cave: Nein, überhaupt nicht. Würdest du nervös sein, wenn du den besten Arzt der Welt treffen würdest? Ich glaube nicht.

Hat er die White Lies auf eine neue Stufe gehoben?

Cave: Das haben wir schon selbst gemacht. Das Demo, das wir ihm von unserer Platte gegeben haben, war schon anders als unser erstes Album. Aber er hat die Songs zu einem Album verbunden und so gut gemacht, wie sie sein konnten.

Charles, du warst Anfang 2010 in Tibet. Haben die Erlebnisse dort Einfluss auf das neue Album gehabt?

Cave: Ja, ich habe einen Song darüber geschrieben. Wir hatten aber noch viel mehr Einflüsse. Die einflussreichsten Dinge für uns sind eigentlich wirklich langweilig, wenn man darüber spricht. Wir waren zusammen auch an wirklich seltsamen Orten wie Island oder Russland. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass diese Orte deine Musik beeinflussen. Es ist einfacher, einen Song über etwas scheinbar viel Geringfügigeres zu schreiben. Weil es dir mehr bedeutet.

Warum heißt das Album Ritual?

Cave: Viele Songs haben etwas mit Dingen zu tun, denen Menschen im Leben nachgehen. Das können auch Rituale sein. Rituale haben für verschiedene Menschen auch aus unterschiedlichen Kulturen immer andere Bedeutungen. Manchmal ist das religiös, manchmal sind es einfach Angewohnheiten oder Aberglaube. Auf einer einfachen Ebene könnte das schon die Familie sein, zu der du jeden Abend zum Abendessen nach Hause kommst. Deine Frau macht Essen, du redest mit den Kindern. Das ist ein Ritual.

Ein einfaches Ritual, bei dem Menschen vielleicht gar nicht wahrnehmen, dass es ihnen wichtig ist.

Cave: Ja, stimmt.

Würdet ihr so auch gern eure Musik sehen: Sie umgibt die Menschen, ohne dass sie wirklich merken, wie viel sie ihnen bedeutet?

Cave: Ich weiß nicht. Davon abgesehen, dass unsere Musik teils sehr dramatisch ist, glaube ich, dass die Bedeutung oft sehr subtil ist. Ich würde gern Musik machen, die ein wenig Zeit braucht, um sich ins Bewusstsein der Zuhörer einzugraben. Ich hoffe, dass ist uns auf dem jetzigen Album gelungen.

Das klingt, als seien auf dem ersten Album To Lose My Life für euren Geschmack zu viele Hymnen gewesen.

Cave: Ich glaube, dass wir mit dem Pomp auf dem ersten Album sehr viel kompensiert haben, unsere Zweifel an der Produktion. Wir haben die Lieder überproduziert, um sie so selbstbewusst wie möglich klingen zu lassen. Trotzdem hatten wir nie einen Song in den Top 40 der englischen Charts. Die Leuten mögen unsere Lieder bei Festivals und anderen Liveauftritten. Aber unsere aktuelle Single Bigger Than Us ist erfolgreicher als alles, was wir bisher gemacht haben, weil das Lied in Großbritannien, Holland und Dänemark viel im Radio gespielt wird.

Zu Bigger Than Us gibt es ein interessantes Video, in dem ein kleiner Junge im Krankenhaus liegt. Habt ihr Einfluss auf eure Videos?

Cave: Nicht wirklich. Regisseure von Musikvideos sind meistens verhinderte Filmemacher. Das merkt man. Sie haben nicht die Finanzierung oder die Ideen, um einen echten Film zu produzieren. Deshalb machen sie Musikvideos. Wenn wir Musikvideoideen zugeschickt bekommen, merkt man, dass diese Leute die Idee zu dieser Handlung schon ewig im Kopf haben. Und jetzt suchen sie nur noch einem Vorwand, um endlich an das Geld zu kommen, um die Idee umzusetzen. Musikvideos sind für mich ein totes Genre. Wir müssen sie aber trotzdem machen. Musikfernsehen ist immer noch populär. Die Tage der unglaublich guten Musikvideos von Radiohead oder Björk sind aber lange vorbei. Damals war das eine tolle Werbung für deren Musik.

Ihr würdet also lieber komplett auf Musikvideos verzichten?

Cave: Genau. Ich finde Videos von Liveshows besser. In Musikvideos wäre ich lieber nicht zu sehen. Denn wir drehen für zehn Minuten und müssen dann wieder fünf Stunden lang warten.

Ein Trailer macht Lust auf das neue Album Ritual:

httpv://www.youtube.com/watch?v=Q920Kj5j68g

White Lies bei MySpace.

Dieses Interview mit den White Lies gibt es auch bei news.de.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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3 Gedanken zu “Interview mit White Lies

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