My Bloody Valentine – “Glider”

Künstler*in My Bloody Valentine

My Bloody Valentine Glider Review Kritik
“Glider” erschien zwischen den ersten beiden Alben von My Bloody Valentine.
EP Glider
Label Creation Records
Erscheinungsjahr 1990
Bewertung

In einem Buch über die Geschichte des Psychedelic Rock hat Kevin Shields einmal erzählt, wie er zu seinem einzigartigen Gitarrensound gekommen ist: “Ich habe praktisch meine eigene Art zu spielen erfunden. Das geschah nicht auf bewusste Art und Weise. … Es fühlte sich spielerisch an, aber auf einer viel stärkeren Ebene.” Seine Technik wurde “glide guitar” genannt und somit indirekt auch zum Namensgeber für diese EP, die My Bloody Valentine zwischen ihren ersten beiden Alben veröffentlichten.

Vereinfacht gesagt, funktioniert “glide guitar” so: Hat eine E-Gitarre am Saitenhalter einen Tremolo-Hebel (auch Vibrato genannt), kann man durch Bewegung dieses Hebels die Spannung der Saiten verändern. Werden sie straffer gespannt, entstehen höhere Töne, sind die Saiten lockerer, werden die Töne tiefer. Man kann also einen einmal angeschlagenen Ton durch den Hebel verändern, und zwar stufenlos und ohne erneut einen Ton anschlagen zu müssen. Normalerweise nutzen Gitarrist*innen diesen Effekt, in dem sie erst einen Ton erzeugen (beispielsweise einen G-Dur-Akkord) und ihn danach durch den Tremolo-Hebel verändern (beispielsweise zwei Halbtöne tiefer oder höher bringen, also in Richtung eines F- oder A-Dur-Akkords bewegen). Kevin Shields macht das allerdings nicht nacheinander, sondern gleichzeitig: Er bewegt den Hebel, während er den Ton anschlägt. Die Veränderung setzt also nicht erst später ein, wenn G zu F oder zu A wird, sondern bereits im Moment der Entstehung des Akkords. Er oszilliert sofort zwischen F, G und A. Dazu laufen diese Töne noch durch diverse Effektgeräte, vor allem mit Hall experimentierte Shields dabei (früher wie heute) sehr gerne.

Das war 1990 nicht nur ziemlich innovativ und einzigartig, sondern auch ziemlich verwirrend. “Der Effekt der gesamten Platte ist, dass sie dich in einem benebelten Zustand ganz nahe an der Glückseligkeit zurücklässt”, heißt es im Hinblick auf Glider treffend in einem Text von Domino Records zur Wiederveröffentlichung aller EPs von My Bloody Valentine, die auf der gerade erschienenen Compilation EPs 1988-1991 And Rare Tracks versammelt sind.

Man kann diesen Effekt in den vier Liedern dieser EP immer wieder erleben, auch schon im Opener Soon, der in etwas anderer Version ein Jahr später auf dem zweiten MBV-Album Loveless zu finden sein würde. Der Song ist für ein paar Takte hell strahlend und der Beat dabei recht straight, aber bereits nach einer knappen halben Minute stürzt er sich in ein heilloses Durcheinander, in ein Sirup aus Nervosität und Verführungskunst. Das im Titel steckende Soon scheint über die Spielzeit von fast sieben Minuten immer kurz bevor zu stehen und zugleich immer unendlich weit weg zu sein – angeblich wurde der Songtitel übrigens gewählt, um Alan McGee zu ärgern, der als Chef von Creation Records damals ständig fragte, wann denn das zweite Album von My Blood Valentine endlich fertig sei und nun eine (wenn auch nicht sehr befriedigende) Antwort hatte.

Im Titelsong Glider kann man kaum unterscheiden, ob die einzelnen Tonspuren vorwärts, rückwärts oder seitwärts laufen. Das Stück gleicht einem Mahlstrom, in dem Knochen, Gedanken, diverse Musikinstrumente und ein paar Albträume pulverisiert werden. Off Your Face, das den Abschluss von Glider bildet und von Sängerin/Gitarristin Bilinda Butcher mitgeschrieben wurde, erinnert an die Smashing Pumpkins in seiner Mischung aus dem Abgrund, der da im Sound lauert, und dem Heilsversprechen, das aus dem Gesang zu entnehmen ist.

Besonders aufhorchen lässt, gerade wegen des Bezugs zu “glide guitar”, auch Don’t Ask Why. Denn so sehr Kevin Shields gefeiert wird für seine Fähigkeiten als Soundtüftler im Studio, so offensichtlich wird bei diesem Lied auch sein Händchen für sehr hübsche, unschuldige Melodien: Hier kann man tatsächlich ausnahmsweise erahnen, dass die Ausgangspunkte dieses Songs vielleicht ganz einfach eine geschrammelte Akustikgitarre und ein Tamburin waren.

Das Video zu Soon (allerdings in der Album-Version).

Website von My Bloody Valentine.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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