New Order – “Σ(No,12k,Lg,17Mif) New Order + Liam Gillick: So it goes…”

Künstler New Order

New Order Σ(No,12k,Lg,17Mif) New Order + Liam Gillick: So it goes... Review Kritik
Das Cover von “Σ(No,12k,Lg,17Mif) New Order + Liam Gillick: So it goes…” ist ebenso kryptisch wie der Titel.
Album Σ(No,12k,Lg,17Mif) New Order + Liam Gillick: So it goes…
Label Mute
Erscheinungsjahr 2019
Bewertung

Im Jahr 1978 waren Joy Division erstmals im Fernsehen zu sehen. Eine Show namens So It Goes auf Granada TV hatte sie eingeladen. Moderator Tony Wilson, auch als Gründer von Factory Records eine einflussreiche Szenegröße, ist sichtlich euphorisiert von dieser Nachricht. Er erinnert bei der Vorstellung der Band aus Manchester daran, dass in genau dieser Show auch erstmals die Beatles und die Buzzcocks den Zuschauern im Sendegebiet vorgestellt wurden, schließlich habe man den Anspruch „the most interesting sounds in the Northwest“ zu präsentieren. Offensichtlich sieht er Joy Division in einer ähnlichen Kategorie. Sänger Ian Curtis blickt derweil zu Boden. Dann spielt die Band ihr erstes Lied vor TV-Kameras, Shadowplay.

Es gibt dazu ein paar Einblendungen von Autobahnen und Gewerbegebieten, Ian Curtis wedelt mit den Armen, Gitarrist Bernard Sumner verspielt sich ein paar Mal, Bassist Peter Hook steht mindestens so breitbeinig auf der Bühne wie die Punk-Helden der Zeit und Schlagzeuger Stephen Morris ist kein einziges Mal richtig zu erkennen. Natürlich lächelt keines der vier Bandmitglieder, keine einzige Sekunde lang. Ebenso selbstverständlich wissen sie, dass dies ein entscheidender Moment für ihre Band ist.

Fast 40 Jahre später stehen drei dieser Herren wieder in den Old Granada Studios in Manchester. Nicht mehr als Joy Division, sondern als New Order, und natürlich nicht mehr mit Ian Curtis, der sich 1980 das Leben nahm. Auch diesmal ist es ein historischer Moment, nicht nur, weil der Konzertmitschnitt morgen unter dem kryptischen Titel Σ(No,12k,Lg,17Mif) New Order + Liam Gillick: So it goes… veröffentlicht wird. Die Performance wird unterstützt von einem 12-köpfigen Synthesizer-Ensemble des Royal Northern College of Music und findet im Rahmen des Manchester International Festival statt. All das belegt: Ein Kreis in der Geschichte der Band hat sich geschlossen, und aus den Newcomern sind Legenden geworden.

Die 18 Lieder, die hier versammelt sind, haben The i News treffend als „a perfect collision of old and new orders… a brilliantly theatrical mix” beschrieben. Σ(No,12k,Lg,17Mif) New Order + Liam Gillick: So it goes… beinhaltet die komplette Show vom 13. Juli 2017, einschließlich der Zugabe sowie drei zusätzliche Tracks aus anderen Konzerten der insgesamt fünf Abende umfassenden Residency in den Granada Studios. Die Zusammenarbeit mit dem Synthie-Orchester, deren Ergebnisse zudem mit Visuals vom bildenden Künstler Liam Gillick untermalt wurden, sorgte für eine einzigartige Atmosphäre und zudem für die Herausforderung, das eigene Material neu zu arrangieren und zu interpretieren.

Die Setlist reicht von Stücken aus der Joy-Division-Zeit (insgesamt erklingen vier Songs der alten Band) bis zu Plastic vom damals aktuellen Studioalbum Music Complete (2015). Viele Ausschnitte aus den Etappen dazwischen machen das Livealbum zu einer durchaus repräsentativen Chronologie von New Order: Im minimalistischen In A Lonely Place (von Joy Division) steht fast nichts der Einsamkeit des Gesangs zur Seite, Shellshock klingt hier wie die Definition einer 1980er-Disco, Subculture entwickelt sich von Club- und Ravesounds hin zu einem klasse Popsong und Behind Closed Doors unterstreicht als letztes Stück des Albums, dass New Order stets auch textlich ambitioniert sind.

Times Change eröffnet die Show, aus einem Quasi-Intro schält sich darin schon alles heraus, was diese Band ausmacht: ein maschineller Beat, eine verträumte Melodie, beträchtliche Eleganz durch die Synthiestreicher, ein feines Gespür für Atmosphäre. Auch ein paar andere New-Order-Spezifika lassen sich auf Σ(No,12k,Lg,17Mif) New Order + Liam Gillick: So it goes… erkennen. Es gibt wenige Acts, die sich vor allem elektronischer Mittel bedienen und weitestgehend dem Dance-Bereich zugeordnet werden können, die Rock-Ästhetik so gut beherrschen wie diese drei Männer. Ein Lied wie Who’s Joe beweist das, noch mehr gilt es für Heart & Soul (von Joy Division), das auch nach vierzig Jahren noch gewagt und unkonventionell klingt, außerdem kalt und stoisch wie etwa die Songs von Suicide.

Zugleich können New Order auch erstaunlich soft sein. Als wichtigster Hebel dabei erweist sich der Gesang von Bernard Sumner. Man kann darüber spekulieren, ob es daran liegt, dass er in die Sänger-Rolle nur durch den tragischen Tod von Ian Curtis geraten ist, aber immer wieder bremst seine Stimme den Sound aus statt – wie es bei Dance-Music mit Vocals sonst meist üblich ist – glänzend in den Vordergrund zu rücken. So wird All Day Long geradezu niedlich, ein Lied wie Dream Attack wäre von den Byrds vorstellbar, so viel Melancholie und Romantik stecken darin, und Elegia könnte keinen besseren Titel haben, denn es klingt trotz der Melodie wie aus einem Horrorfilm schlicht wunderschön. Auch das epische Your Silent Face kombiniert einen reizvollen Shuffle mit so einer einzigartigen Melodie.

Bizarre Love Triangle ist ein Beispiel für die perfekte Symbiose von klasse Melodie und klasse Rhythmus, Vanishing Point hat einen fast prototypischen Charakter: Man kann die mittelalten Engländer förmlich vor sich sehen, die E eingeworfen oder Bierbecher in der Hand haben, sich sanft wiegen in der Erinnerung an die eigenen glorreichen Zeiten. Darin wird Nostalgie erkennbar, aber auch, wie sehr New Order die Clubkultur geprägt haben. Disorder (von Joy Division) ist eines der Lieder, dass sie damals schon beim Auftritt für Granada TV gespielt hatten, es klingt auch ein halbes Menschenleben später noch offensiv und fast krawallig. Am Ende scherzt Bernard Sumner darüber, dass er es langsam hinbekommt, gleichzeitig zu singen und ein Instrument zu spielen. Dem Fazit des Guardian zu Σ(No,12k,Lg,17Mif) New Order + Liam Gillick: So it goes… ist letztlich nichts hinzuzufügen: „There are intensely emotional scenes as New Order revisit their back catalogue on a grand scale, airing songs not heard for 30 years plus rapturously received tributes to the band’s fated predecessor, Joy Division.”

Ein Eindruck der Performance mit Visuals: Subculture live in Manchester.

https://www.youtube.com/watch?v=mwFgC5w1wtA

Website von New Order.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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