Rolling Blackouts Coastal Fever – “Sideways To New Italy”

Künstler Rolling Blackouts Coastal Fever

Rolling Blackouts Coastal Fever Sideways To New Italy Review Kritik
Rolling Blackouts Coastal Fever besingen auf “Sideways To New Italy” heimlich das Heimweh.
Album Sideways To New Italy
Label Sub Pop
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

Das ist ja eine typische Entwicklung. Eine Band (in diesem Fall Rolling Blackouts Coastal Fever) legt ihr Debüt vor (in diesem Fall das 2018er Hope Downs), erntet Lob und Erfolg, geht auf Tour und genießt Ruhm und Anerkennung. Dann geht es an das zweite Album, und die Musiker wollen unbedingt zeigen, was sie dazugelernt haben. Statt ursprünglicher, unmittelbarer Songs gibt es dann plötzlich Ambitionen, Konzept und Gefrickel. Auf The Cool Change, dem letzten Song auf Sideways To New Italy, könnte man meinen, diese Entwicklung beobachten zu können. Es gibt rückwärtslaufende Passagen, Bassist Joe Russo steuert ein hypnotisches Element bei, dazu kommen weitere psychedelische Effekte. Doch diese Interpretation wäre komplett verkehrt. Die Idee für den Refrain des Stücks ist schon zehn Jahre alt, damals spielten Tom Russo, Joe White und Fran Keaney (die drei Sänger und Songwriter bei RBCF) noch gemeinsam in einer ganz anderen Band. „Ich denke, wir haben damit versucht, etwas von der unschuldigen Verrücktheit unserer allerersten Gehversuche einzufangen“, sagt Fran Keaney über The Cool Change.

Das Lied verweist damit auf das wichtigste Thema auf dem zweiten Album der Australier. Die sehr umfangreichen Konzertreisen des Quintetts haben ihre Spuren hinterlassen und nicht nur Heimweh ausgelöst, sondern auch einige weitreichende Gedanken über Identität und Prioritäten. „Ich habe mich auf der Tour völlig orientierungslos gefühlt. Es macht Spaß, aber du kommst an einen Punkt, an dem du dich fragst: Wer bin ich überhaupt noch? Du fühlst dich, als seist du zugleich überall und nirgendwo. Und letztlich niemand“, sagt Keaney. Auch Rolling Blackouts Coastal Fever haben also die Erfahrung so vieler Bands mit ausgedehntem Tour-Kalender gemacht: Man verliert die Verbindung zu seinen Wurzeln, Beziehungen gehen unwillkürlich zu Ende, weil sie nicht gepflegt werden können, man hat letztlich keinen Alltag mehr: “Wir haben viel von der Welt gesehen, was ein Privileg ist. Aber es war so, als würde man durch ein Fenster auf das Leben anderer Menschen schauen. Natürlich fängt man dann an, auch über sein eigenes nachdenken”, so Tom Russo.

Die Antwort auf diese Erfahrung: Die Band aus Melbourne hat auf die zweite Platte sehr viele Referenzen an Heimat und Herkunft gepackt, kurze Gastauftritte von Freunden, Insider-Jokes, Bezüge zu dem Leben, das sie hatten, bevor sie Rockstars wurden. Die neuen Lieder sollen so etwas wie Souvenirs und Erinnerungsstücke ans Zuhause sein, wenn sie mit ihnen (irgendwann nach der Corona-Pandemie) wieder um die Welt reisen werden. Keaney: „Ich wollte Songs schreiben, die ich als eine Art Fundament der Hoffnung verwenden konnte, auf die ich stolz sein konnte. Viele der Songs auf der neuen Platte blicken nach vorne und versuchen, sich eine Idylle von Zuhause und Liebe vorzustellen.”

Diese Idee erklärt auch den Albumtitel. New Italy ist ein Ort an den Northern Rivers in New South Wales, der Heimat von Schlagzeuger Marcel Tussie. Auch die Familie Russo stammt dorther. Gegründet wurde die Gemeinde, die heute knapp 200 Einwohner hat, von Auswanderern aus Venetien, die sich dort ein kleines Italien nachgebaut haben. Sie haben „eine Utopie der Gegend erschaffen, die sie in ihren Herzen tragen“, sagt Tom Russo. „Es ist ein Werk von Menschen, die versuchen, in der Fremde ein Zuhause zu finden. Sie versuchen, eine Utopie in einer turbulenten und unvollkommenen Welt zu schaffen.” Offensichtlich fanden sich Rolling Blackouts Coastal Fever auf Tour in einer ganz ähnlichen Situation und mit diesem Ansatz so verbunden, dass er nun das zweite Album dominiert.

Erstaunlich ist bei all diesen Themen (Sehnsucht, Isolation, Entwurzelung), wie fröhlich Sideways To New Italy klingt. Schon der Auftakt The Second Of The First ist betont heiter und ungestüm, die Stimme kommt nicht so richtig gegen die Gitarren an, aber offenkundig haben die Instrumente auch mindestens genauso viel zu erzählen wie der Sänger. Das Folgende Falling Thunder feiert Unbeschwertheit und Unberechenbarkeit in Text und Sound, das Ergebnis klingt nicht so sehr nach einem Gewitter, sondern nach einem Ausflug im Cabrio an den Badesee. Später strahlt Beautiful Steven eine beinahe unspektakuläre Lässigkeit aus, die nicht aufgesetzt ist, sondern aus der eigenen Überzeugung und dem eigenen Können erwächst. The Only One wird von Optimismus und Jangle getragen, beides ist maximal ausgeprägt, Cars In Space hat so viel Drive, wie es solch ein Songtitel vermuten lässt.

Natürlich gibt es auch Momente, in denen erkennbar wird, dass die Welt von Rolling Blackouts Coastal Fever zuletzt nicht immer rosarot war. She’s There gerät recht ruppig, in Not Tonight trifft der zuckersüße Gesang auf eine sperrige Gitarre. Sunglasses At The Wedding erweist sich als Ballade mit akustischer Gitarre und viel Wehmut angesichts der eigenen (unvermeidlichen) Fehl- und (gelegentlichen) Unbelehrbarkeit als Fundament. Cameo überrascht mit einem reduzierten, verträumten Beginn und bleibt auch danach etwas luftiger, fügt sich aber ebenfalls sanft in die hier dominierende Ästhetik ein.

Als Fazit kann man erkennen, dass das Quintett aus Melbourne gereift ist und dem Trubel nach Hope Downs auch einigen Tribut zollen musste. Rolling Blackouts Coastal Fever haben aber keinerlei Lust, sich in die Reihe der Musiker einzureihen, die über ihren eigenen unverhofften Erfolg und die damit einhergehenden Strapazen jammern. Sie wissen offensichtlich nach wie vor, wie viel Glück sie haben, sie genießen das Leben (und wohl auch das Miteinander) als Band. Sideways To New Italy ist sonnig und positiv in Atmosphäre, Sound und Gestus, weiterhin sind die Songs engagiert und gitarrenverliebt, mit viel Präsenz und Tempo. Es sieht schwer danach aus, als könnten Rolling Blackouts Coastal Fever damit erneut die Welt beglücken, und diesmal noch besser vorbereitet auf den entsprechenden Siegeszug gehen.

Das Video zu She’s There entstand natürlich auch in der Heimat.

Website von RBCF.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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