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Benjamin von Stuckrad-Barre – “Noch wach?”

Autor*in Benjamin von Stuckrad-Barre

Benjamin von Stuckrad-Barre Noch wach? Kritik Rezension
Aus dem Innenleben eines Großverlags berichtet “Noch wach?”
Titel Noch wach?
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung Foto oben: Mahesh Patel auf Pixabay

Das Beste an diesem Buch ist das Vorab-Marketing. Und damit ist nicht die Ankündigung gemeint, Noch wach? sei der erste deutsche #MeToo-Roman von Relevanz (wer auch immer diese Behauptung in die Welt gesetzt hat). Vielmehr kann man eine Kette von Nachrichten dazu zählen, die sich mit etwas Fantasie als grandiose Kampagne für das neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre betrachten lässt.

Sie beginnt im Frühjahr 2021, als die Vorwürfe gegen Julian Reichelt bekannt werden, damals Chefredakteur der Bild-Zeitung. Es ging in den Anschuldigungen um Compliance, Drogen und Machtmissbrauch, vor allem gegenüber jungen Mitarbeiterinnen, mit denen es allerlei Liebschaften gegeben haben soll. Und sie endet vor knapp zwei Wochen – also wenige Tage, bevor Noch wach? in die Buchläden kommt – mit der Veröffentlichung privater Nachrichten von Mathias Döpfner, damals wie heute Vorstandsvorsitzender der Springer SE, in denen der mächtige Medienunternehmer als Ossi-Hasser, Klimawandel-Leugner und Wissenschaftsfeind erscheint.

In beiden Fällen vermuten einige Benjamin von Stuckrad-Barre, der von 2008 bis 2018 für verschiedene Publikationen aus dem Springer-Verlag tätig war, als Whistleblower. Wenn das stimmt, hat der Autor nicht nur wichtige Aufräumarbeit in der deutschen Medienlandschaft geleistet, sondern auch perfekt den Boden für seinen neuen Roman bereitet. Denn Noch wach? handelt von nichts anderem als den schockierenden Methoden und skrupellosen Menschen in einem deutschen Großverlag.

Die Namen “Reichelt” und “Döpfner” werden an keiner Stelle genannt, auch wenn der 48-jährige Autor an anderer Stelle durchaus gerne auf Namedropping setzt. Sein Ich-Erzähler lebt am liebsten in Los Angeles und ist dort ganz nah dran an wichtigen #MeToo-Figuren wie Rose McGowan oder dem Harvey-Weinstein-Umfeld. Bei einem Aufenthalt in Berlin erfährt er von den Machenschaften bei seinem Ex-Arbeitgeber. Er trifft eine junge Journalistin namens Sophia, die im Verlag (auch der Begriff “Springer” wird gemieden) schnell Fuß gefasst hat und es dabei nicht schädlich fand, eine Affäre mit dem Chefredakteur zu haben, der sie mit Komplimenten und Karriereversprechen überschüttet – bis sie erfährt, dass er genau diese Masche schon mit zig anderen jungen Mitarbeiterinnen durchgezogen hat.

Je mehr der Ich-Erzähler über die Hintergründe erfährt, als sich Sophia ihm anvertraut, mit anderen Betroffenen vernetzt, recherchiert und an die Öffentlichkeit gehen will, desto größer wird sein Bedürfnis, sich vom Verlag zu distanzieren, an dessen Spitze ein Mann steht, der für ihn “wie ein Bruder” ist, wie es an einer Stelle heißt. Doch so hartnäckig er den Boss auf die drastischen Missstände im eigenen Haus hinweist, so wenig dringt er durch. Mehr und mehr zweifelt er deshalb daran, ob dieser Mann tatsächlich einen funktionierenden moralischen Kompass und die Fähigkeit zu Selbstkritik hat (“Deine Selbstbegeisterung ist nichts als eine Weltverzweiflung”, wirft er ihm schließlich an den Kopf), zumal sich die Verfehlungen im von ihm geleiteten Unternehmen längst nicht nur auf Sexismus beschränken.

Noch wach? erzählt letztlich davon, wie diese Männerfreundschaft zerbricht, und ist zugleich eine Chronologie der Bewusstwerdung über die Methoden des Boulevards im Social-Media-Zeitalter sowie über das Wesen sexistischer Strukturen, die der Ich-Erzähler in seiner Brutalität beide lange nicht erkannt hatte. “Das ist immer so irre, was mutmaßliche Opfer alles beachten müssen, um glaubwürdig zu sein. Wenn du nicht heulst und schreist, am besten noch blutest, dann glauben wir dir nicht. Und wenn du zu laut heulst und schreist und zu dramatisch blutest, dann hast du dem armen Mann bestimmt eine Falle gestellt und dich selbst verletzt und so weiter”, bemerkt er nun in einem Moment, in dem beide Erweckungserlebnisse zusammentreffen.

Man kann – wenn man anhand der offenkundigen Parallelen das Geschehen auf die realen Ereignisse überträgt – dabei etliche Punkte kritisch sehen. Stuckrad-Barre hat viele Jahre für Medien aus dem Springer-Verlag gearbeitet, er war gut bezahlter Star-Reporter und hat somit selbst profitiert von all den Methoden, die er hier als abscheulich darstellt. Er ist ein Geläuterter, aber einer, der seine eigenen Privilegien verklärt. Er versteckt sich mit Noch wach? hinter dem Schutzschild von Fiktion, Roman und Ich-Erzähler statt seinen Feldzug (bei allen juristischen Risiken, die das wohl hätte) mit Klarnamen und offenem Visier zu führen. Er ist ein Nestbeschmutzer, aber einer, der dadurch keinen Schaden nehmen will. Und die Aufmerksamkeit, die mutige Frauen für ihre eigenen Missbrauchsgeschichten und sexistische Strukturen geweckt haben, nutzt er jetzt als Mann für den eigenen publizistischen Erfolg. Er ist ein Feminist, aber einer, der erst als solcher erkennbar wird, seit sich damit Auflage machen lässt.

Freilich weiß er all diesen Widersprüchen auch etliche Pluspunkte entgegen zu setzen. An erster Stelle ist dabei zu nennen, wie klarsichtig und schonungslos das System des hier im Zentrum stehenden Medienunternehmens seziert (und damit zwangsläufig ultimativ diskreditiert) wird. Er zeigt aus der Innenperspektive, wie sich dieser Konzern immer mehr radikalisiert hat. Seine Springer-Fiktion ist ein hyperkapitalistisches Hamsterrad, in dem man ein 24/7-Leistungsideal propagiert, das nur möglich ist, weil Frauen im Hintergrund die Care-Arbeit übernehmen. Die von einer USA-Reise des Konzernchefs importierte Start-Up-Ideologie verstärkt diese Entgrenzung noch. Die Weltanschauung der Bosse ist gestrig, die Berichterstattung der von ihnen installierten Redaktionen stemmt sich gegen jede gesellschaftliche Veränderung. Der Konzern produziert nicht das, was er sollte (Information), sondern bloß Empörung – und er ignoriert die hohen gesellschaftlichen Folgekosten, die dabei entstehen. Der CEO, der all diese Zusammenhänge nicht sehen will und all diese Entwicklungen trotzdem zu verantworten hat, wird letztlich als Hanswurst gezeichnet, der Kompetenz vortäuscht mit den immer gleichen (falsch verwendeten) Hochkultur-Zitaten, Schlagfertigkeit mit den immer gleichen Witzen und Sachkenntnis mit hohlem BWL-Sprech von Milestones und Leuchtturmprojekten.

Durchaus wohltuend ist auch das Plädoyer für den Wert von handwerklich sauberem Journalismus, das in diesem Roman steckt. Erinnert man sich daran, wie sich einst der junge Popliterat als Zyniker und Freund der Oberfläche gefiel, so erstaunt, wie viel Leidenschaft Stuckrad-Barre hier für das Ethos seiner Profession an den Tag legt. An einer Stelle heißt es zu den Boulevard-Methoden: “Wenn das Journalismus ist, dann ist eine Messerstecherei ein chirurgischer Eingriff.” Auch viele weitere Passagen unterstreichen: Es geht ihm in diesem Beruf um Recherche, Wahrheit und Aufklärung, ebenso wie um einen offenen Diskurs, der vielleicht sogar zu so etwas wie Gemeinwohl und gesellschaftlichem Fortschritt beitragen kann. Sein Ich-Erzähler will progressiv und menschlich bleiben – und beides geht nicht in dem Verlag, dem er schließlich den Rücken kehrt.

Auch den Kampagnen-Fetisch des Boulevards durchschaut und zerlegt er (nun) auf geradezu herrliche Weise. “Sein WIR störte mich so”, schreibt er über das liebste Personalpronomen des Chefredakteurs mit der ausgeprägten Büro-Libido. “Es war ein Wir, von dem ich mich niemals würde mitgemeint fühlen wollen, für mich war es ein Ihr, und dieses Ihr stank nach Bier, Schäferhund und Pisse, über alles in der Welt.” Das Zitat zeigt eine weitere enorme Qualität von Noch wach?: Benjamin von Stuckrad-Barre beherrscht auch hier einen gerne ätzenden Humor, der auf seiner scharfen Beobachtungsgabe und sprachlichen Präzision beruht. Den Management-Jargon des CEOs persifliert er ebenso gekonnt (auch wenn Stilmittel wie Versalien und Kursivschreibung dabei etwas arg willkürlich und offensichtlich eingesetzt werden) wie die Floskeln der Marketing-Chefin im Verlag oder die überachtsame und durchtherapierte Sprache der Gen-Z.

Zumindest erstaunlich ist die Erzählposition, die Stuckrad-Barre für seinen Roman wählt. Er thematisiert oft, sogar auf dem Klappentext, seine eigene Unsicherheit. “Irgendwie komisch zu sein, was war denn auch groß dabei, also, mir war das sehr vertraut, als Haltung zur oder Bewertung durch die Welt um einen herum”, heißt es etwa oder “Also behielt ich meinen Spott für mich; wir waren ja alle lächerliche Figuren, und wenn man das nur wusste und großzügig war mit anderen wie mit sich, ging es einem einfach besser.” Trotzdem scheint sein Ich-Erzähler keinen Zweifel daran zu haben, auf der richtigen Seite zu stehen. Er wird zum obersten und vermeintlich engagiertesten Frauenbeauftragten des Verlags, mehr noch: Er klagt an einer Stelle, er habe sich schon viel zu viele schockierende #MeToo-Geschichten anhören müssen. Sophia kontert dieses Lamentieren mit dem Hinweis: Die betroffenen Frrauen müssen sich diese Geschichten nicht nur anhören, sondern sie erfahren. Täglich, am eigenen Leib, ein Leben lang.

Auch wenn Stuckrad-Barre noch eine schöne Schlusspointe bietet, bleibt das Kernproblem von Noch wach?: Seine Bestürzung angesichts von Übergriffen und Ungerechtigkeiten, von Missbrauch und Manipulation, ist nicht glaubhaft, erstaunlich wenig emotional und letztlich egoistisch. Die Abrechnung mit einem System, das diesen Autor groß gemacht und gestützt hat, ist eitel und wohlfeil. Das Übernehmen der Rolle als Aufklärer hat ein deutliches Mansplaining-Geschmäckle und literarisch (also ohne Wissen um den ganzen Springer-Reichelt-Döpfner-Kontext) ist das Buch auch nicht ganz frei davon, gelegentlich langweilig zu werden. Es gilt das, was auch für die extrem clevere Kampagne im Vorfeld galt: Noch wach? ist letztlich eine Ego-Show, und zwar eine sehr männliche.

Bestes Zitat: “Moralisch im Recht zu sein oder auch nur sich zu wähnen, macht so dumm, das ist immer das Problem.”

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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