Künstler*in | Noel Gallagher’s High Flying Birds | |
Album | Noel Gallagher’s High Flying Birds | |
Label | Sour Mash | |
Erscheinungsjahr | 2011 | |
Bewertung |
Angst. Man hätte denken können, dass dieses Wort gar nicht existiert im Vokabular des hauptberuflichen Großmauls Noel Gallagher. Und dennoch bekannte der ehemalige Oasis-Boss unlängst: Beim Gedanken daran, künftig als Solokünstler auf der Bühne zu stehen, überkommt ihn weitaus mehr als nur leichtes Lampenfieber. „Ich soll da auf einmal den Frontmann spielen? Wie soll ich das Publikum begrüßen? Was soll ich zwischen den Songs sagen? Soll ich Witze erzählen? Ich habe keine auf Lager“, bekannte er im Interview mit dem Musikexpress.
Dabei muss sich Noel Gallagher natürlich auch mit seinen High Flying Birds (keine Band, sondern „eine Sammlung von Freunden“, wie er betont) keine Sorgen machen. Seine von trockenem Humor geprägten Entertainer-Qualitäten hat er wiederholt unter Beweis gestellt. Seine Stimme (die er selbst kaum ein ganzes Konzert lang ertragen könne, wie er behauptet) ist nicht so legendär wie die seines kleinen Bruders Liam. Aber sie ist heute (dank Studiotricks, Training oder schlicht durch einen etwas solideren Lebenswandel) viel besser als beispielsweise zu Zeiten des Unplugged-Auftritts. Und sie ist nichts weniger als die Stimme einer Kultur, einer Epoche. Noel Gallagher könnte Schni Schna Schnappi singen, und es würde genügen, um eine ganze Generation von Aufbegehren, Optimismus und Gemeinschaftsgefühl schwärmen zu lassen. Und wenn es trotz allem bei den anstehenden Konzerten mal nicht so gut laufen sollte, kann er jederzeit Klassiker wie Don’t Look Back In Anger, The Masterplan oder Slide Away aus dem Ärmel schütteln.
Man kann die Befürchtungen des 44-Jährigen also getrost zerstreuen mit einem ganz einfachen Satz: “Ganz ruhig Noel, du hast doch die Songs!” Das war immer so, und das trifft auch auf Noel Gallaghers High Flying Birds zu.
Am Beginn stehen ein paar Sekunden Schweigen, die man gut als Metapher für die Wartezeit auf dieses Album interpretieren kann – schließlich haben die Fans nach dem Ende von Oasis lange nach neuen Songs aus der Feder von Noel Gallagher gedürstet, und er selbst geht schon viel länger mit der Idee eines Soloalbums schwanger. Everybody’s On The Run startet denn auch gleich mit Chören aus dem Paradies und furiosen Streichern. Dazu kommt ein stoischer Bass, wie man ihn auch bei Oasis seit Gas Panic! gerne eingesetzt hat und eine nervöse Unruhe, die sehr schön zur Thematik passt, aber niemals in Hektik ausartet. Wenn Noel Gallagher dann am Ende des Lieds die Titelzeile viermal wiederholt, dann ist sie längst zu einem verführerischen Mantra geworden.
Dream On wird danach deutlich zupackender und rückt die Gitarren in den Mittelpunkt, die bei Everybody’s On The Run noch höchst unscheinbar geblieben waren. Stoisch und unerschütterlich mit einer Zusatzprise Eifer und Überzeugung, die dank der Bläser dazukommt, stolziert der Track daher. Das hätte, auch wegen des patentierten Gaga-Textes auch gut auf Don’t Believe The Truth gepasst.
Bei If I Had A Gun deutet sich schon nach zwei Takten eine ganz große Ballade an. Aber Noel Gallagher verzichtet hier auf einen himmlischen Refrain im Stile von Stop Crying Your Heart Out oder Sunday Morning Call. Stattdessen bleibt If I Had A Gun fast zurückgenommen. Der Rhythmus ist beinahe träge und kommt doch einer Urgewalt gleich – das verleiht dem Lied eine ganz besondere Majestät. Zudem ist If I Had A Gun der vielleicht eindrucksvollste Beweis für die Meisterschaft, mit der Noel Gallager mittlerweile Songs schreibt. Intro, Strophe, Break, Strophe, Refrain, Break, abgewandelter Refrain, Bridge, Refrain, Break, Strophe: So ist dieser Song aufgebaut – und das ist eine Million Meilen entfernt vom simplen 12-Takt-Schema beispielsweise von Shakermaker.
Der Refrain des dezent psychedelischen The Death Of You And Me ist ebenso kernig wie elegant. Weitere Pluspunkte: ein Intro mit feinem, an Paul Weller erinnernden Picking, und eine Bläsersektion, die die Kinks der Arthur-Periode stolz gemacht hätte.
(I Wanna Live In A Dream In My) Record Machine, ein Überbleibsel der Dig Out Your Soul-Sessions, hat den bis dahin ambitioniertesten Refrain des Albums, wird aber zugleich – trotz all seines Live And Let Die-Pomps – das bis dahin schwächste Stück. Danach ist AKA…What A Life! der erste tanzbare Track, dank treibender Drums und einem schwebenden Piano-Riff. Noel Gallagher wird das nicht gerne hören, aber diesen Sound könnte man sich auch von Coldplay vorstellen.
Soldier Boys And Jesus Freaks führt ebenfalls vor Augen, mit welcher Selbstverständlichkeit Noel Gallagher mittlerweile Lieder aus dem Ärmel schüttelt, die in puncto Klasse, Abgeklärtheit und Qualität locker in einer Liga mit Paul Weller, Elvis Costello oder Ray Davies spielen. Allerdings haftet dem Song auch eine gewisse Belanglosigkeit an, vor der AKA…What A Life! das Album gerade zu bewahren schien.
Mit der bongo-befeuerten Leichtigkeit und Frische von AKA…Broken Arrow kriegt Noel Gallaghers High Flying Birds dann aber sofort wieder die Kurve. (Stranded On) The Wrong Beach bleibt danach mit Gitarre, Schlagzeug, Bass (und später einem Klavier) enorm reduziert. Das verleiht dem Song, vor allem im Kontrast zur Opulenz der anderen Stücke, eine sehr eindrucksvolle Unmittelbarkeit. Es hat aber noch einen anderen Effekt: Bei (Stranded On) The Wrong Beach ist dann doch der Moment gekommen (auch wenn es der einzige bleibt), bei dem man sich wünscht, nicht Noel, sondern Liam Gallagher würde dieses Lied singen.
Den Abschluss auf Noel Gallaghers High Flying Birds macht Stop The Clocks – so etwas wie der Heilige Gral für Oasis-Fans. Wie einst bei All Around The World hat Noel Gallagher jahrelang von der Klasse dieses Lieds berichtet, ohne dass es irgendjemand gehört hätte. Sogar ein Boxset haben Oasis dann Stop The Clocks genannt. Nun ist das Lied endlich veröffentlicht – und passend zu seiner Entstehungsgeschichte bleibt es eine gleißend schöne Verheißung, eine Ankündigung, die allerdings niemals den Punkt findet, in dem all ihre Pracht kulminieren könnte. Wo All Around The World sich immer höher aufschwang, endet Stop The Clocks in einer Kakophonie.
Unterm Strich beeindruckt an Noel Gallaghers High Flying Birds am meisten seine Souveränität. Man hätte vom Oasis-Chef ein rein akustisches Album erwarten können (mit Songs im Stile von Talk Tonight oder dem hübschen I’d Pick You Every Time auf der B-Seite von If I Had A Gun). Er hätte seine elektronische Seite ausleben können, die er etwa mit seinem Chemical-Brothers-Gastspiel angedeutet hatte oder in jüngerer Vergangenheit mit den Falling Down-Remixes auf der B-Seite von Shock Of The Lightning, und die er beispielsweise auch mit der Dramaturgie und der Betonung des Repetitiven in Let The Lord Shine A Light On Me (der B-Seite zu AKA…What A Life!) offenbart. Auch ein Himmelfahrtskommando in Richtung Psychedelik lag im Bereich des Möglichen wird in Form des bereits angekündigten Albums in Zusammenarbeit mit Amorphus Androgynous womöglich noch folgen. Auch Noel Gallaghers High Flying Birds (und vor allem der Bonustrack A Simple Game Of Genius) zeigen durchaus Spurenelemente davon.
Stattdessen hat Noel Gallagher einfach seinen vertrauten Stil durchgezogen. Es gibt auf Noel Gallaghers High Flying Birds keinen einzigen Song, den man sich nicht auch im Repertoire seiner Ex-Band hätte vorstellen können. Dass er sie aber solo herausbringt, hat für Noel Gallagher einen sehr angenehmen Nebeneffekt: Oasis hätte man für dieses Album womöglich Stillstand und Wiederholung vorgeworfen. Als Solokünstler erntet Noel Gallagher dafür stattdessen Dankbarkeit.
Es geht doch, auch als Frontmann: Noel Gallaghers High Flying Birds spielen If I Had A Gun live in London:
httpv://www.youtube.com/watch?v=lsIdFbeMJfg
Noel Gallaghers High Flying Birds sind im März 2012 live in Deutschland zu sehen:
8. März 2012: Hamburg – Alsterdorfer Sporthalle
9. März 2012: Berlin – Huxleys
11. März 2012: München – Tonhalle
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