Künstler*in | Diverse | |
Album | The Endless Coloured Ways – The Songs Of Nick Drake | |
Label | Chrysalis | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung | Foto oben von Fontaines D.C.: (C) Cargo Records |
Für den NME hat der Journalist Tom Pinnock einmal eine Liste angefertigt, welche Merkmale hilfreich sind, um einen vernachlässigten Musiker zu einem Kult-Künstler werden zu lassen. “Mitreißende Songs zu schreiben ist ein guter Anfang, aber jede der folgenden Eigenschaften könnte jemandem theoretisch den Status eines Underground-Helden verleihen: Drogenmissbrauch, verpasste Chancen, Jahre in der Wildnis und Erlösung, Tragödie, Arroganz, Ärger mit dem Gesetz, ein zu Unrecht ignoriertes Meisterwerk.”
Nick Drake, dem 32 Künstler*innen mit dem heute erscheinenden Tribut-Album The Endless Coloured Ways – The Songs Of Nick Drake huldigen, erfüllt (bis auf den Ärger mit der Polizei) gleich alle diese Kriterien. Wahrscheinlich trug das erheblich dazu bei, dass er, obwohl er von seinen drei Alben zu Lebzeiten insgesamt nur 4000 Exemplare verkaufte, nach seinem Tod aber von Musikgrößen wie The Cure, REM und Kate Bush gefeiert wurde und seine Lieder schließlich sogar in Kinofilmen und Autowerbung zu hören waren.
Gehen wir die von Pinnock erstellte Liste also einmal durch, um zugleich ein kleines Porträt dieses Musikers zu zeichnen.
- Drogen: Nick Drake entdeckte als 19-Jähriger das Kiffen für sich und rauchte bald enorme Mengen an Marihuana. Auch LSD konsumierte er, was wohl auch seine manchmal halluzinogenen Texten beeinflusst hat.
- Verpasste Chancen: Drake kam aus einem guten Elternhaus und erhielt dort früh musikalische Förderung. Sein Debütalbum veröffentlichte er als 20-Jähriger auf Island Records, schon zuvor hatte er Joe Boyd als Mentor gewonnen, einen der wichtigsten Männer in der damals boomenden englischen Folkszene. Mit kommerziellem Erfolg klappte es trotzdem nicht.
- Jahre in der Abgeschiedenheit: Der Musiker zog nach der Veröffentlichung seines letzten Albums Pink Moon (1972) wieder zu seinen Eltern, wo er gut zwei Jahre später an einer Überdosis Antidepressiva starb, mit 26. Schon zuvor, nachdem Bryter Layter (1971) gefloppt war, obwohl er damit versucht hatte, sich dem Pop-Markt anzunähern, hatte er kaum mehr seine Wohnung verlassen.
- Tragödie: Natürlich ist hier sein früher Tod zu nennen, nachdem er jahrelang an schweren Depression gelitten hatte. Dass er kurz vor seiner Überdosis, bei der nie geklärt wurde, ob er sie versehentlich oder absichtlich nahm, Pläne für eine neue Platte geschmiedet hatte, macht die Umstände noch tragischer.
- Arroganz: Schon in ganz jungen Jahren soll sein Schuldirektor gesagt haben, der kleine Nick erlaube es niemandem, ihn wirklich gut zu kennen. Diese Verschlossenheit und Rätselhaftigkeit behielt er auch in seiner Zeit als Musiker bei. Nick Drake gab so gut wie keine Interviews und spielte auch nicht gerne live. Nicht nur von seiner Plattenfirma wurde ihm dieses Verhalten nach und nach als starrköpfig und selbstherrlich ausgelegt.
- Von den Zeitgenoss*innen verkanntes Meisterwerk: Eigentlich kann man hier all seine drei Alben nennen. Der Rolling Stone hat sie 2003 auch gleich durchweg in seiner Liste der “500 Greatest Albums Of All Time” berücksichtigt.
Wie hoch die Qualität des Outputs von Nick Drake war, unterstreicht diese Compilation mit 23 Songs, die von Cally Callomon, der Managerin des Nachlasses von Nick Drake, und Jeremy Lascelles, dem Mitbegründer von Blue Raincoat Music und CEO von Chrysalis Records, initiiert wurde. Zugleich kann man staunen, wie groß die Bandbreite der entstandenen Coverversionen ist, wie vielfältig also die Potenziale sind, die schon immer in diesen mittlerweile mehr als 50 Jahre alten Liedern gesteckt haben. Es gibt natürlich verspielte und sanfte Folk-Klänge wie in Hazey Jane II von Camille, erlesen elegante Momente wie Poor Boy von Nadia Reid oder Which Will von Christian Lee Hutson feat. Elanor Moss, die zusammen fast voll und ganz auf den Zauber ihrer Stimmen setzen.
Man findet auf The Endless Coloured Ways aber auch dezente Erweiterungen und Verschiebungen der ursprünglichen Ästhetik, etwa wenn Ben Harper Time Has Told Me in Richtung Country schweben lässt und dabei zeigt, wie wunderbar seine Stimme zur Wärme passt, die aus Nick Drakes Liedern so häufig strömt. Katherine Priddy beweist mit I Think They’re Leaving Me Behind, dass die Vorlage auch mit opulenteren Arrangements funktioniert, Liz Phair verleiht Free Ride etwas Seventies-Hippie-Vibe.
Zweimal werden aus den zarten Originalen sogar Rocksongs. Fontaines D.C. platzieren ihren Cello Song mit mächtig Punch irgendwo zwischen Asien und Led Zeppelin – so viel Potenzial für Aggressivität hätte man niemals in diesem Lied vermutet, das aber dennoch vielschichtig bleibt statt plump zu wirken. John Parish und Aldous Harding versehen Three Hours mit einem reizvoll monotonen Drive, sodass man beinahe glauben könnte, unser Underground-Folk-Held hätte Lederjacke, Motorradstiefel und Sonnenbrille herausgeholt.
“Cally und ich haben dieses Projekt mit einer einfachen Vorgabe an die Künstler begonnen: Sie sollten die Originalaufnahme von Nick ignorieren und den Song in ihrem eigenen Stil neu erfinden”, sagt Jeremy Lascelles zum Briefing für die hier vertretenen Musiker*innen. “Als die Ergebnisse nach und nach eintrafen, waren wir begeistert von der Brillanz und dem Einfallsreichtum, den jeder Künstler gezeigt hatte. Sie hatten genau das getan, was wir uns erhofft hatten – sie hatten den Song zu ihrem eigenen gemacht.”
Dafür kann man in der Tat gleich etliche Beweise finden. Mike Lindsay und Guy Garvey rücken ihre Interpretation von Saturday Sun unter anderem mit den originellen Bläsern etwas in Richtung Jazz und bauen ein paar Experimente ein, ohne die feinherbe Grundstimmung zu zerstören. Let’s Eat Grandma verliehen From The Morning durch den Drumcomputer und die Synthies fast eine existenzialistische Note. Auch Parasite wird in der Version von Stick In The Wheel elektronisch, wobei der Stimmeffekt die zerbrechlich-verzweifelte Atmosphäre noch verstärkt.
Black Eyed Dog, das sich Craig Armstrong feat. Self Esteem ausgesucht haben, bekommt fast eine exotische Note, Harvest Breed ist in der Fassung von Skullcrusher und Gia Margaret so sphärisch, dass es kaum noch zu erkennen ist. Aurora siedeln Pink Moon irgendwo zwischen Björk, Saint Etienne und Jenny Hval an, John Grant macht aus Day is Done im weitesten Sinne Electropop à la OMD oder Ultravox – auch das ist überraschend, ohne bloß auf maximale Provokation aus zu sein.
“Nick Drake war es nie wichtig, sich selbst als Künstler zu promoten. Aber ich denke, er wäre überglücklich gewesen, wenn seine Kunst von so vielen lebendigen und talentierten Künstler*innen wie denen, die wir angesprochen haben, gefördert worden wäre”, sagt Cally Calloman. “Jeder Track ist ein Beispiel dafür, dass ein anderer Künstler Nicks Kunst so aufnimmt, als wäre es seine eigene, und sich dem Song unterwirft. Die Ergebnisse beweisen mir, dass Talent so oft über bloßes Können oder ‘Persönlichkeit’ siegen kann.”
Zu den erstaunlichen Erkenntnissen von The Endless Coloured Ways – The Songs Of Nick Drake gehört auch, wie zeitgemäß viele der hier vertretenen Coverversionen klingen. So wird Road von Bombay Bicycle Club und The Staves geschmackvoll modernisiert, bei Emeli Sandés Interpretation von One Of These Things First könnte man durch den Beat und den Harmoniegesang meinen, All Saints hätten sich an TripHop versucht, und Philip Selway eignet sich Fly auf sehr intelligente Weise an und führt es ins 21. Jahrhundert, ohne dass es eitel oder übergriffig wirkt.
Ein Highlight wird River Man in der Version von Feist, die von ihr besungenen Titelfigur wird hier vollends zur mystischen Gestalt, ebenso anziehend wie furchteinflößend. Voice From A Mountain von The Wandering Hearts bringt die Wirkung der Kompositionen von Nick Drake vielleicht am besten auf den Punkt: Sie ist herb, verträumt, empfindsam und tröstlich. Seine Musik ist so wie die, die W. Somerset Maugham in seinem 1908 veröffentlichten Roman Der Magier als Medizin für einen Mann mit gebrochenem Herzen beschrieben hat: “Sie linderte den Schmerz, unter dem er litt, indem sie ihn in eine ideale Welt hinaufhob.”