Capitano – “Hi!”

Künstler Capitano

Capitano Hi Kritik Rezension
Die Lust auf Spektakel sieht man auch dem Cover von “Hi!” an.
Album Hi!
Label Eat The Beat
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

Reichlich verwirrt waren die Zuschauer des ZDF-Morgenmagazins, als da plötzlich ein halbnackter, behaarter Mann mit Federmaske auf der Bühne stand und etwas von der Kraft sang, die man zum Alleinsein braucht. Auch wenn man kein Rentner ist und die erste Begegnung mit Capitano auf eine angenehmere Tageszeit fällt, kann es reichlich schwierig sein, das Duo einzuordnen: Es gibt hier Glam und Prog, Schönheit und Krawall, Albernheiten und Virtuoses. Als „höchst tanzbares Genre-Gulasch“, hat Pretty In Noise diesen Sound beschrieben und angesichts des Debütalbums Hi anerkannt: „So ein energetisches, beklopptes und perfekt durchkomponiertes Stück Musik hat die Welt lange nicht gehört.“

Capitano sind Sänger John Who!?, der angeblich kanadische Vorfahren hat und mittlerweile zwischen Berlin und Frankfurt lebt, und Gitarrist Fuzz Santander, gebürtiger Berliner. Begleitet werden sie von Schlagzeuger Dyve Diamond, Bassist Mikael Goldbløm und dem Credo (siehe Morgenmagazin): „Um sein wahres Selbst zu sehen, muss man manchmal eine Maske aufsetzen.“

Kein Wunder, dass bei diesem Selbstverständnis etwa Ziggy Stardust, Songs For The Deaf oder Apocalypse Dudes von Turbonegro als Einflüsse benannt werden. Der musikalische Kosmos von Capitano reicht aber noch deutlich weiter. Man muss nur die ersten drei Tracks von Hi heranziehen, um das zu belegen: Das Spektakel Good Times (For Bad Habits) eröffnet das Album mit einer Tanzbarkeit und Affektiertheit wie Franz Ferdinand, dann wird der Song erstaunlich heavy, es folgen ein kurzer Mittelalterrock-Teil, dann plötzlich Feuer und Ernsthaftigkeit, dann Ekstase mit Kopfstimme. Das anschließende Gypsy On A Leash lässt an die Last Shadow Puppets denken, nicht nur in der Stimmung, sondern auch mit seinem akustischem Fundament und den filigranen Streichern. Dive! ist komplex, stolz, etwas durchgeknallt und ambitioniert (inklusive Kinderchor) – dieser Sound (und das am Ende wie ein Mantra wiederholte „It’s never ever too late to regret.”) hätte bestimmt auch Queen gefallen.

Man kann nach diesem Start recht ratlos sein und fragen, was die Sum Of Things sein soll, wie später ein weiterer Song des Albums heißt. In der Tat fehlt den Stücken auf Hi manchmal die Unmittelbarkeit: Der Appeal richtet sich eher auf den Kopf als auf den Bauch, noch weniger auf das Herz. Man kann aber auch einfach die Lust auf Theater genießen, die Capitano hier versprühen.

Der Anfang von Get Naked ist verspielt und funky, dann überrascht eine Jazzrock-Passage, schließlich wird das Lied eine erstaunliche Melange von all dem. My Bad bleibt vergleichsweise straight, auch wenn es am Ende doch noch von der eigenen Entschlossenheit übermannt wird. Superhyperdyperbolic ist virtuos und (nicht nur im Songtitel) spinnert wie Muse und mündet in so etwas wie einen Space Boogie.

I Dance! könnte eines der Lieder sein, die Johnny Depp als Sweeney Todd singt, voller Sehnsucht, Wut und Wissen um das eigene Anderssein. Dass Capitano schon mit Band Of Skulls, Coheed & Cambria oder Monster Magnet spielten, ebenso wie mit Mastodon, deren Troy Sanders in Get Naked auch einen Gastauftritt hat, kann man sich angesichts von Songs wie None The Less perfekt vorstellen (ohnehin macht das Album große Lust auf eine Live-Begegnung mit der Band): Der akustische Beginn wäre von den Kooks vorstellbar, dann entwickelt sich (schon wieder) nichts weniger als eine Rockoper daraus, mit Chor, Kirchenorgel und allem Pipapo.

Das ist die größte Stärke dieser Band: Die Musik von Capitano ist intellektuell, aber nicht auf aufgesetzte Weise, sondern stets mit dem Ziel, daraus einen riesigen Spaß zu veranstalten. Und so sehr sie auch nach Chaos klingen mag, ist doch klar: Nichts daran ist zufällig.

Man darf davon ausgehen, dass das Video zu Good Times (For Bad Habits) in der psychiatrischen Abteilung spielt.

Auf das Live-Erlebnis muss man nicht mehr lange warten:

27.03. Köln, Blue Shell
28.03. Hamburg, Nochtwache
20.04. Dresden, Polimagie Festival (Beatpol)

Website von Capitano.

 

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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