Coldplay, Red Bull Arena, Leipzig

Chris Martin (hier in Madrid in Aktion) gab auch in Leipzig alles. Foto: Emi/Juanlu Vela
Chris Martin (hier in Madrid in Aktion) gab auch in Leipzig alles. Foto: Emi/Juanlu Vela

„Vollplastisch“. Dieses Wort schlägt das Korrektur- und Ergänzungsprogramm vor, wenn ich „Coldplay“ in mein Handy tippen möchte. Falscher könnte die Software nicht liegen. Coldplay sind nicht Plastik. Coldplay sind Holz und Erde, Schweiß und Tränen. Sie sind authentisch, pur und echt, selbst noch als Stadionrocker. Die Show in der Red Bull Arena Leipzig lässt daran nicht den geringsten Zweifel.

Das Quartett fährt ein Riesenspektakel auf und all die bekannten Stadion-Spielchen von „Ohoho“-Chören über den Gruß an die Fans ganz hinten und ein bisschen Anbiederung an die Lokalpatrioten (die Aufforderung „Make some motherfucking Leipzig noise“ ist das erstaunlichste Beispiel dafür) bis hin zu einem Konzertteil, der mitten im Publikum gespielt wird. Es gibt die Sprüche, die man schon hundertmal gehört hat. „Es ist eine Ehre, hier zu sein“, sagt Sänger Chris Martin, und das putzige Deutsch dieses Hänflings klingt ausgerechnet wie das von Boxweltmeister Vitali Klitschko. Alles an dieser Show ist perfekt, und dennoch ist nichts klinisch. Coldplay schaffen es in Leipzig, ihre Fans nicht nur zu beeindrucken, sondern zu berühren. Und sie wirken nicht wie vier Leute, die hier ihrem Beruf nachgehen wie an jedem Abend. Sie sind eine Band.

Nach gut 100 Minuten wird abgeklatscht, Coldplay verbeugen sich und strahlen. Aber auch zwischendurch tuscheln sie sich Sätze zu, tauschen Instrumente und gehen entspannt darüber hinweg, als erst der Anfang von God Put A Smile Upon My Face verpatzt wird und Chris Martin (der am Ende des Songs dann doch die Gitarre im hohen Bogen wegwirft) sogar kurz den Text vergisst. Der Grund dafür ist nicht schwer zu erraten: Freude an dem, was sie machen.

Luftballons, Konfetti, Feuerwerk: Fürs Auge wurde in Leipzig jede Menge geboten.
Luftballons, Konfetti, Feuerwerk: Fürs Auge wurde in Leipzig jede Menge geboten.

Dafür spricht auch die Spontaneität, für die auch inmitten dieses Mega-Aufwands noch Platz bleibt. Das göttliche Yellow bekommt ein sehr reizvolles Intro verpasst, von Chris Martin am Klavier mehr oder weniger improvisiert und mit tiefer Stimme gesungen. Später baut er ein Justin-Bieber-Zitat ein, und als es zum Ende der Show zu regnen beginnt, stimmt er kurzerhand Singing In The Rain an – und die Fans singen glücklich mit.

Dabei ist Leipzig kein allzu gutes Pflaster für Coldplay. Als ich sie im Dezember 2000 bei der Rolling Stone Roadshow im Haus Auensee sehen wollte, hing an der Tür ein Zettel: „Coldplay spielen nicht. Wegen Krankheit.“ Keith Caputo durfte dafür doppelt so lange ran, was natürlich in keiner Weise eine Entschädigung war. Auch für die Band selbst war dieser Tag ein Reinfall, hat Schlagzeuger Will Champion der Leipziger Volkszeitung im Interview erzählt. „Wir waren sehr jung, mit sehr vielen Leuten im Bus unterwegs. Wir wurden müde, krank, wir hatten eine schwere Zeit als Band.“ Coldplay entschieden sich, alle weiteren Konzerte abzubrechen – womöglich hat das die Band gerettet. „Diese Tour, diese abgesagte Show in Leipzig war ein Weckruf für uns: Du kannst nicht erwarten, geradewegs zum Gipfel zu kommen, du musst hart dafür arbeiten. Wieder nach Leipzig zu kommen, heißt auch, diesen Geist von damals endgültig zurück in die Flasche zu bringen”, sagt Champion.

Blinkende Handgelenke zeigten dem Publikum: Wir gehören dazu.
Blinkende Handgelenke zeigten dem Publikum: Wir gehören dazu.

Zuerst einmal aber lassen Coldplay eine Menge heraus. Schon beim ersten Song Hurts Like Heaven gibt es Feuerwerk, es folgt In My Place – und ein Papierregen aus den Buchstaben, die zusammen die Worte Mylo Xyloto bilden. Es ist ein atemberaubender, nicht zu überbietender Auftakt. Coldplay wollen die beste Show spielen, die die Fans je gesehen haben, kündigt Chris Martin danach an – und schon nach diesen zwei Liedern meint man, die Band habe dieses Versprechen bereits erfüllt. Als dann zwei Lieder später auch noch ein paar Dutzend riesige Luftballons aufs Publikum herabregnen, ist das Spektakel perfekt.

Als Augenschmaus sind diese Showelemente vergnüglich genug, doch das Beste an ihnen ist: Sie sind nicht nur Bombast, sondern sorgen vom ersten Lied an dafür, dass das Publikum hier nicht zum passiven Beobachter gemacht wird. Die Fans sind Teil des Konzerts, genauso wichtig für die Show wie die Band selbst – das ist die Botschaft. Dazu tragen die Luftballons bei, deren Bahnen unsichtbare Bänder zwischen den Fans knüpfen. Vor allem aber die LED-Armbänder, die jeder am Einlass bekommen hat und die per Funksteuerung zu Leuchtelementen werden. Das ganze Stadion erstrahlt dann von gelben, grünen oder roten Lichtern, das Publikum wird zu so etwas wie einer viel zu groß geratenen Weihnachtsbaumbeleuchtung – und erkennt schon beim ersten Song: Wir gehören dazu. Wir gehören zusammen.

Genau das war schon immer das Fundament des Coldplay-Sounds: Verbundenheit, Mitgefühl, ein Element der Hoffnung, das Versprechen, dass am Ende alles gut wird. Das stille Kopfschütteln über das unausrottbar Böse in der Welt wird bei ihnen vertont und auch an diesem Abend in Leipzig umgewandelt in die Botschaft: Wir sind gut, wir sind viele, wir können etwas erreichen.

Natürlich besteht zwischen der Unbedingtheit, Naivität und Schlichtheit dieses Ansatzes und aufwendigem, kalkuliertem, perfekt inszeniertem Stadionrock ein Widerspruch. Aber Coldplay schaffen es immer wieder, die Showelemente nicht als Blendwerk einzusetzen, sondern zur Unterstützung ihrer Message. Von einer der kreisförmigen Videoleinwände singt Rihanna Princess Of China. Coldplay gehen dazu ganz nach vorne auf den Steg, der ins Publikum führt und spielen danach auch Up In Flames und Warning Sign auf diesen paar Quadratmetern.

Als echte Band mit Spaß an der Suche präsentieren sich Coldplay auf der Bühne. Foto: Emi/Juanlu Vela
Als echte Band mit Spaß an der Suche präsentieren sich Coldplay auf der Bühne. Foto: Emi/Juanlu Vela

Mit Viva La Vida, Charlie Brown und Paradise bildet ein unfassbares Song-Trio den Abschluss, in diesen Momenten herrscht in der Leipziger Arena so viel Gänsehaut, dass man eigentlich eine Spontan-Razzia von Peta wegen der Gefahr von Massentierhaltung befürchten müsste. Dann taucht Chris Martin am anderen Ende des Stadions zur Zugabe wieder auf. Es gibt Us Against The World auf einer kleinen Bühne mitten in den Fans im Innenraum, Speed Of Sound, Clocks, Fix You und zum Finale Every Teardrop Is A Waterfall, alles großartig. Als die Fans die Leipziger Arena verlassen, singen sie noch immer den Chor aus Viva La Vida.

Die Show wimmelt vor Momenten, die herzzerreißend sind. Man sieht Teenager-Fans, die mit weit ausgebreiteten Armen mitsingen, man sieht reifere Herrschaften mit leuchtenden Augen und natürlich knutschende Pärchen im längst schon heiratsfähigen Alter. Man kann nicht anders als feststellen: Coldplay haben die Herzen dieser Menschen erreicht wie vielleicht keine andere Band der vergangenen 15 Jahre. If you could see it then you’d understand.

Coldplay spielen Viva La Vida live in Leipzig:

httpv://www.youtube.com/watch?v=tDGsJmiUPy0

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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3 Gedanken zu “Coldplay, Red Bull Arena, Leipzig

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