Desperate Journalist – “Maximum Sorrow!”

Künstler Desperate Journalist

Desperate Journalist Maximum Sorrow! Review Kritik
“Maximum Sorrow!” ist von einem Konzept des Künstlers Kevin Bewersdorf inspiriert.
Album Maximum Sorrow!
Label Fierce Panda
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung

Ich bin natürlich ein Mann der Fakten. Manchmal erscheint mir eine Verschwörungstheorie trotzdem plausibel. Zum Beispiel diese: Sängerin Jo Bevan, Gitarrist Rob Hardy, Schlagzeugerin Caz Hellbent und Bassist Simon Drowners geben zwar vor, eine Band namens “Desperate Journalists” zu sein, und zwar schon seit dem gleichnamigen Debütalbum 2015. In Wirklichkeit scheint es sich bei dem britischen Quartett aber einfach um eine Neuauflage von Echobelly zu handeln. Die hatten sich ab 2004 nur noch sporadisch mit Konzerten oder neuem Material blicken lassen. Meine These: Sie haben sich einfach umbenannt, vielleicht um bei verzweifelten Journalisten, die ständig auf der Suche nach dem Neuen sind, wieder etwas attraktiver zu werden.

Ein Song wie die Single Fault vom heute erscheinenden Album Maximum Sorrow! scheint ein guter Beleg zu sein, denn die Stimme von Jo Bevan ähnelt hier sehr stark der von Echobellys Sonya Madan, auch der Mix aus großer Entschlossenheit und einer etwas sperrigen Ästhetik ist gut vergleichbar. Mit der Zeile „And those teenage hangups / are hard to beat” gibt es einen Wink zu den Undertones, dazu einen aufmüpfigen Bass, hektisches Schlagzeug und im Refrain dann den durchaus wütenden Hinweis: “If it’s no one’s fault / then it’s everyone’s fault.” Auch Personality Girlfriend, das als weitere Vorab-Single viel Pop-Talent und enorme Coolness zeigt, könnte man sich perfekt im Oeuvre von Echobelly vorstellen.

Freilich gibt es bei genauerer Betrachtung auch mehr als genug Hinweise, die meine schöne Verschwörungstheorie schnell in sich zusammenbrechen lassen. Erstens legen Desperate Journalist hier schon ihr viertes Album nach dem Debüt, Grow Up (2017) und The Search For The Miraculous (2019) vor, dazu kommen noch zwei EPs des Quartetts. Wären sie wirklich bloß auf den “Neue-Band-Effekt” ausgewesen, hätten sie wohl kaum eine solche Ausdauer bewiesen. Zweitens sind die echten Echobelly tatsächlich noch aktiv, sie haben 2017 sogar ein neues Album veröffentlicht. Und drittens ist dieses Quartett in den wichtigsten Momenten von Maximum Sorrow! natürlich durchaus eigenständig.

Das fängt beim Albumtitel an, der auf eine Idee des Künstlers Kevin Bewersdorf zurückgeht. Demnach gibt es einen Punkt, an dem man so randvoll ist mit Melancholie, dass einfach kein weiterer Kummer mehr in uns hineinpasst – in diesem Moment sind wir also frei. Es setzt sich fort in Stücken wie Fine In The Family, das mit einer spektakulären und kreativen Gitarrenarbeit glänzt, Poison Pen, das aufgewühlt, aber trotzdem erwachsen klingt, oder Was It Worth It, das viel Kraft und einige Eleganz hat. Und es wird zusätzlich betont durch eine klangliche Vielfalt, wie man sie bei diesem Quartett noch nie gehört hat. “Ich bin sehr stolz auf das, was wir gemacht haben, und hoffe, dass es das farbenfrohe Ding geworden ist, das wir beabsichtigt haben – melancholisch, aber betörend”, sagt Jo Bevan.

Der Auftakt Formaldehyde macht das gleich sehr deutlich, denn er eröffnet Maximum Sorrow! eher wie ein Rausschmeißer denn als Knalleffekt – und verzichtet dabei weitgehend auf Gitarren . “Wir wollten nicht einfach mehr vom selben machen. Vor allem nach so einer Gitarren-lastigen Platte wie In Search Of The Miraculous wünschten wir uns etwas, das eher kaleidoskopisch und vielfältiger ist”, sagt Bevan. Das hört man auch in The Victim, das Töne aus der Gitarre ebenfalls nur in Spurenelementen enthält und trotzdem unverkennbar Gitarrenmusik ist. Auch What You’re Scared Of unterstreicht den Willen zur Variation, der Song beginnt experimentell, etwa durch den ungewöhnlichen Takt, und endet in der Nähe von Noise-Rock.

Utopia verweist am deutlichsten auf so etwas wie das Leitomtiv der Platte. Die Frage “Is this Utopia?” und die Erkenntnis “It’s not unusual / to try to find something beautiful” sind wohl auf die Erfahrungen der Sängerin in London bezogen, wo das Album inmitten der Covid-Pandemie auch aufgenommen wurde. “Die Arbeit an den Texten habe ich mit der vagen Idee begonnen, über London oder Städte im Allgemeinen zu schreiben. Als dann aber immer mehr musikalische Ideen entstanden, habe ich das etwas lockerer betrachtet. Es gibt Songs über den Umzug nach London, über Psychodramen, die sich in Londoner Wohnungen abspielen, und darüber, wie man von der Stadt desillusioniert wird. Aber wenn es ein zentrales Thema in den Texten gibt, dann ist es eher allgemein reflektierend und nachdenklich”, sagt sie.

Das wird bestätigt etwa durch Everything You Wanted: Der verspielte Beginn, der die ersten anderthalb dieser mehr als sechs Minuten einnimmt, könnte von The Cure (und zwar aus jeder beliebigen Karrierephase) stammen, der Refrain hat dann viel Punch. Im düsteren Armageddon kommt der Weltuntergang ganz gemächlich über uns, bevor er in ein recht langes, instrumentales und wuchtiges Finale übergeht. Auch in dieser Dramaturgie kann man die Idee des Maximum Sorrow gut erkennen. Sie hat Desperate Journalist insofern inspiriert, “dass ich mir einer fast religiösen Sehnsucht nach Bedeutung, Schönheit, Absolution, Liebe, was auch immer, in meiner Beobachtung des Alltäglichen und in der Wiederholung meiner Erinnerungen bewusst bin”, sagt Bevan, “und der unvermeidlichen Traurigkeit, die mit der Erkenntnis kommen kann, dass dies ein fast unmöglich zu erreichender Zustand ist, selbst wenn ich genau wüsste, wonach ich suchen würde.”

Das Video zu Fault beweist: Da gibt es doch eine Gitarre.

Website von Desperate Journalist.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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