Enno Bunger Leipzig Konzertkritik

Enno Bunger, Täbchenthal, Leipzig

Während der Covid-Pandemie hat Nick Cave etliche ausführliche Gespräche mit dem Musikjournalisten Séan O’Hagan geführt, die später unter dem Titel Glaube, Hoffnung und Gemetzel in Buchform erschienen sind. Der Sänger äußert darin viele sehr reflektierte und tiefgründige Gedanken zu Tod und Trauer, Vergebung und Schmerz und natürlich auch zum Wesen von Rockmusik. An einer Stelle postuliert er: „Kunst muss die Fähigkeit haben, Dinge zum Besseren zu wenden, denn was wäre sonst ihr Zweck?“, und fährt dann fort: „Ich glaube, Musik, besonders Livemusik, hat die Fähigkeit, uns mit unserem höheren Selbst zu verbinden. Im kollektiv erlebten Augenblick der Performance werden die Menschen durch die Musik vereinigt. Das hat für sich genommen bereits eine moralische Kraft. Und das kann einen immensen Einfluss auf einer Person oder ihre Beziehungen zu anderen Menschen haben.“

Das Zitat passt in mehrfacher Hinsicht wunderbar zu diesem Abend im Täubchenthal. Denn Enno Bunger singt hier (unter anderem) über Tod und Trauer, Vergebung und Schmerz – und der erhebende Effekt dabei wird in Leipzig auf sehr ungewöhnliche Weise deutlich. Man kann hier kaum eine der sonst üblichen Gesten von Konzert-Euphorie beobachten. Die Fans singen nur einmal (auf explizite Aufforderung) hörbar mit. Kaum jemand zückt ein Handy, um die schönste Stelle im ganz persönlichen Lieblingssong festzuhalten. Niemand eskaliert im Moshpit. Es wird auch fast nicht getanzt (bis auf eine Landsfrau des Künstlers aus Ostfriesland ziemlich weit hinten). Aber praktisch allen im Saal gefällt offensichtlich, was da geboten wird. Mehr noch: Sie sind mal berührt, mal bedrückt, mal erschüttert, mal getröstet – immer ganz individuell und dennoch gemeinsam.

Das ist erstens auch deshalb erstaunlich, weil die Lieder von Enno Bunger sehr weltliche Themen haben. Es geht um Klimakatastrophe und Weltuntergang, um Todesfälle und Einfache Leute, um Rechtsruck und Bucket Lists, um Blockaden und Depression. Es überrascht zweitens auch deshalb, weil dieser Künstler eine so große stilistische Bandbreite abdeckt, dass er eigentlich automatisch immer einen gewissen Teil seines Publikums frappieren müsste, denn das Spektrum reicht von sentimental bis politisch, von tanzbar bis intim.

In den besinnlichen Momenten am Klavier ist es so still, dass man das Geräusch der Klimaanlage im gut gefüllten Täubchenthal hören kann. Insbesondere zu Beginn der Show agiert er mit seinen Mitstreiter*innen an Schlagzeug, Gitarre und Bass hingegen so laut und heavy, dass er scherzhaft von einem Nebenprojekt mit dem Arbeitstitel „Ennowar“ fantasiert. Kurz vor der Zugabe gibt es dann sogar noch einen kleinen Techno-Ausflug. Dass die Menschen in Leipzig all das nicht nur mitmachen, sondern auch bejubeln, ist keine Selbstverständlichkeit in Zeiten, in denen man allerorten motiviert wird, eine anhand der eigenen Vorlieben möglichst genau ausdefinierte Komfortzone zu errichten und diese bloß nicht mehr zu verlassen, weil man dann ja mit dem Anderen, Unerwarteten, womöglich gar Provokanten konfrontiert werden könnte.

Zugleich ist der Appeal von Enno Bunger an so einem Abend nicht schwer zu verstehen. Er klingt oft, als wäre Gisbert zu Knyphausen als Sänger bei Kettcar eingestiegen, manchmal auch, als hätte jemand bei Bosse die besonders plakativen Elemente entfernt. Er erweist sich als talentierter Entertainer und improvisiert beispielsweise sehr gekonnt, als anfangs beide Pianos auf der Bühne nicht funktionieren, was er mit Witzen etwa über Lehrer*innen, Hundefrisuren und später über seine (selbstgebastelten?) Laserhandschuhe überbrückt. Schließlich verletzt er sich auf dem Weg von der Bühne nach dem regulären Set auch noch an der Hand, was seinen Ta(s)tendrang aber keineswegs bremst. Womöglich verspürt er vor lauter Freude darüber, nach einer langen Zwangspause endlich wieder live spielen zu können, gar keinen Schmerz. Und auf seine Fans in Leipzig haben diese knapp zwei Stunden eindeutig auch eine heilende Wirkung: Hätte man ein Nick-Cave-O-Meter dabei, würde der Zeiger im Täubchenthal eindeutig den Bereich des „höheren Selbst“ erreichen.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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