Enter Shikari (Pls) Set Me On Fire Review

Enter Shikari – “A Kiss For The World”

Künstler*in Enter Shikari

Enter Shikari A Kiss For The World Review Kritik
Enter Shikari haben A Kiss For The World
Album A Kiss For The World
Label So Recordings
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung Foto oben: Check Your Head / Jamie Waters

Dass Enter Shikari ihr siebtes Studioalbum in einem Landhaus in der Nähe der Küstenstadt Chichester aufgenommen haben, das nicht einmal einen Stromanschluss hat, kann man kaum glauben. Denn das übermorgen erscheinende A Kiss For The World platzt beinahe vor Energie. Diese Band, “die politisch, gesellschaftlich und klanglich nie etwas anderes abgeliefert hat als Feuer”, wie The Line Of Best Fit das einmal genannt hat, zeigt auch hier riesige Ambitionen in jeder Sekunde – und Frontmann Rou Reynolds klingt weiterhin wie ein Sensibelchen, das als Kind in einen prall gefüllten Trog voller Red Bull gefallen ist.

Der Titelsong am Anfang das Albums wird gleich von einer Fanfare eröffnet, dann folgt die Grußformel “Be embraced, billions” und dann ein zigfach aufpeitschendes “Go go go!”, als würden Enter Shikari tatsächlich versuchen, noch einmal ganz neue Power-Level zu erreichen. Leap Into The Lightning wird noch aggressiver, fieser und dringlicher als ihr übliches Material, wieder wird dieser Ansatz kombiniert mit einem großen, durchaus eleganten Refrain – so etwas käme vielleicht heraus, wenn man Frank Turner verbieten würde, seine Musik weiterhin mit einer Gitarre zu machen. Bloodshot klingt später wie The Prodigy mit Tiefgang.

Um all das auf eine Platte zu bannen, musste im improvisierten Studio die Versorgung mit Solarstrom stimmen. “Man konnte nicht gleichzeitig einen Gitarrenpart aufnehmen und den Wasserkocher einschalten. Das hat uns wirklich geerdet. Jeder Tag musste gut geplant werden”, sagt Reynolds. Die Entscheidung für die spartanischen Aufnahmebedingungen kann er trotzdem gut erklären: “Ich glaube, wir wollten ganz bewusst ein gewisses Gefühl der Naivität zurückbringen. Denn sobald man ein normales Studio betritt, hat man die hauseigenen Techniker, die ihre eigene Art haben, Dinge zu tun. Und man hat einen Produzenten, der seine eigene Art hat, Dinge zu tun. Als Band in einer solchen Umgebung kann es manchmal so aussehen, als wäre man die Auswärtsmannschaft, die dort bloß zu Gast ist.”

Die zweite große Überraschung an A Kiss For The World ist, wie positiv diese Platte klingt. Enter Shikari haben in den 20 Jahren ihrer Karriere immer gerne auf gesellschaftliche Probleme hingewiesen, Krisen in den Blick genommen und Protest artikuliert. Nach der Covid-19-Pandemie hätte man erwarten können, dass das Quartett noch kritischer, radikaler und durchaus auch düsterer wird, schließlich hat Corona die Band von ihrer Lebensader abgeschnitten: der Nähe zum und dem Austausch mit ihrem Publikum.

“Zu dieser Zeit fühlte es sich an, als ob wir den Tod unserer Band erlebten”, sagt Rou Reynolds. “Es war, als würde uns einer der Geister in A Christmas Carol unsere Zukunft zeigen. Es war, als ob wir auf uns selbst herabblicken würden. Ich konnte sehen, dass ich noch am Leben war – ich konnte sehen, dass alle Mitglieder noch am Leben waren – und ich wusste, dass wir spielen wollten. Aber die Umstände führten dazu, dass wir Zeugen des völligen Rückzugs der Gruppe in die totale Untätigkeit wurden.”

In einem Lied wie Dead Wood, das Streicher, Aufgewühltheit und Lust auf Größe etwa im Stile der Smashing Pumpkins als wichtigste Zutaten hat, hört man hier am deutlichsten die “existential crisis”, die er als Ausgangspunkt des Albums bezeichnet hat. Zugleich spricht aus einem schlichten “Together”, das er nach der ersten Strophe im abenteuerlustigen Jailbreak schreit, das Versprechen auf Erlösung durch die Möglichkeit, endlich wieder Gemeinschaft erleben zu dürfen.

“Mir war einfach nicht klar, dass die emotionale und physische Verbindung zu anderen Menschen so zentral für meine Art zu schreiben ist”, sagt er im Rückblick. “Es war nicht so, dass ich diese Dinge für selbstverständlich hielt. Ich wusste gar nicht, dass man sie reflektieren musste. Denn in der Vergangenheit waren sie einfach immer da gewesen.” Als Enter Shikari endlich wieder zusammen spielten, waren seine ersten Eindrücke “euphorisch”, als sie schließlich mit der Arbeit an A Kiss For The World loslegten, fühlte es sich für ihn an, “als ob ein unstillbarer Durst plötzlich gestillt worden wäre”.

Jetzt packen sie in einen Track wie (Pls) Set Me On Fire gefühlt alle fünf Sekunden ein neues Genre, man kann hier Reggae heraushören, Hardcore und New Rave, man meint Maximo Park ebenso zu erkennen wie Sepultura. It Hurts vereint Eurodance und Metal, Indie und Industrial, dazu die Geräusche von Autorennen und Horrorfilmen. Das umwerfende Goldfish zeigt, dass die Band, die all ihre bisherigen Alben in die Top 10 im UK gebracht hat, gleichzeitig verführerisch, wild, eingängig und brachial sein kann. Giant Pacific Octopus (I Don’t Know You Anymore) lässt schnell verstehen, wie der NME angesichts dieser Platte zur Formel von “joy as an act of resistance” kommen konnte. Das instrumentale Bloodshot (Coda) demonstriert derweil mit seinem orchestralen Arrangement, wie großartig diese Kompositionen sind, die man keinesfalls bloß als herausgeballerten Pandemie-Frust abtun sollte.

“Dieses Album ist aufregend, weil der Entstehungsprozess im wahrsten Sinne des Wortes aufregend war”, sagt Reynolds treffend. “Es hat Dinge in mir geweckt, von denen ich dachte, ich hätte sie völlig verloren. Es war aufregend, es zustande zu bringen. Es war erhebend. Es war kraftvoll. Es war mein sehnsüchtigster Wunsch, wieder Songs machen zu können. Ich wollte nicht nur den Rausch der Live-Musik spüren, sondern auch den Nervenkitzel der sehr einsamen Erfahrung des Schreibens und der Kreativität. Denn auch das ist wirklich aufregend.”

Zusammen spielen und Energie raus lassen: das Video zu Set Me On Fire.

Website von Enter Shikari.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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