Everything Everything – “Re-Animator”

Künstler Everything Everything

Everything Everything Re-Animator Review Kritik
Everything Everything haben “Re-Animator” in nur zwei Wochen aufgenommen.
Album Re-Animator
Label Everything Everything
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

„Come on, you only lost your mind“, heißt die zentrale Zeile in Lost Powers, dem ersten Lied auf dieser heute erscheinenden Platte. Dazu gibt es eine kreisende Gitarrenfigur einen entspannten Beat, was in Kombination an Blur zu Zeiten von 13 denken lässt. Vielmehr als diese Assoziation prägt aber die besagte Zeile den Eindruck des Songs. Natürlich ist der Hinweis richtig, dass es ab und zu gar nichts schaden kann, das Hirn abzuschalten. Aber ausgerechnet von Everything Everything? Das englische Quartett stand mit seinen bisherigen vier Alben schließlich für eine enorm intelligente, heitere Popmusik, die sich nie mit Standardlösungen zufrieden gab, sondern auf Innovation, Konzept und, jawohl: Hirn setzte.

Das hat ihnen nicht nur zwei Nominierungen für den Mercury Prize eingebracht, sondern auch weitere Erfolge, kulminierend in einem triumphalen Auftritt im Alexandra Palace in London im Rahmen der letzten Welttournee. Diese Show fühlte sich für Everything Everything wie der Abschluss eines Kapitels an. Schlagzeuger Michael Spearman sagt: “Der Auftritt war wundervoll, es fühlte sich wie ein weiterer Höhepunkt an, die Kirsche auf der Torte.“ Bassist Jeremy Pritchard pflichtet ihm bei: „Es erschien wie das Ende von etwas, so als könnten wir jetzt die nächste Seite in der Geschichte der Band aufschlagen.“

Das ist ein Argument für die Erklärung des Albumtitels Re-Animator. Ein anderes ist die Erkenntnis, dass (selbst für vier Männer, die in einer Band spielen) die Jugend irgendwann vorbei ist und ein neuer Lebensabschnitt beginnt, der für die Hälfte der Bandmitglieder mittlerweile auch die Rolle als Vater beinhaltet. Schließlich steht der Titel für eine Abkehr vom Schwerpunkt, den die Band selbst zuletzt gesetzt hatte. Sowohl Get To Heaven (2015) als auch A Fever Dream (2017) waren recht fatalistisch und düster, beinahe dystopisch geraten. Diesmal sollte die Orientierung eher wieder am Debüt Man Alive (2010) und dem folgenden Arc (2012) erfolgen. “Es ist ein bisschen klischeehaft, aber wir haben viel darüber gesprochen, zu unseren Wurzeln zurückzukehren“, sagt Frontmann Jonathan Higgs und fügt schmunzelnd hinzu: „Wir nehmen uns das eigentlich bei jedem Album vor: Lasst uns nicht all diese Synthesizer, Programmierungen und solchen Blödsinn machen. Diesmal sind wir diesem Ziel zumindest näher gekommen als sonst.“

„Der Titel Re-Animator ist natürlich nicht zufällig gewählt“, sagt Pritchard. „Wenn du ihn mit etwas verknüpfen willst, was wir zuvor getan haben, kann man hier eine wiedergewonnene Unschuld und Verwunderung finden, die es auch auf unserer ersten Platte gab. Die Atmosphäre ist ähnlich.“ Das Stück, in dem der Begriff auch im Text auftaucht, ist Black Hyena und zeigt gleich den Effekt, den Everything Everything mit diesem Ansatz auf ihrem fünften Album erzielen: Irgendwie ist das Rockmusik, irgendwie aber auch etwas ganz Anderes.

Radiohead kann man als passende Referenz heranziehen, wie etwa It Was A Monstering mit seinen geheimnisvollen Klängen und einer Dramaturgie zwischen Beklemmung und Ausbruch zeigt. Auch Lord Of The Trapdoor entwickelt sich von filigran zu brachial und führt schnell zum Gedanken: Es dürfte niemanden geben, der OK Computer geliebt hat und diesen Song nicht mögen wird, denn das Stück entfaltet bei aller Komplexität eine enorme emotionale Wirkung. Moonlights ist vergleichsweise sanft und entwickelt mit seiner fast meditativen Anmutung einen eigentümlichen Reiz. In Planets ist die Stimme von Higgs bei ein paar Tönen fast sonor statt im üblichen Falsett, die Musik bewegt sich zwischendurch in Richtung Eighties-Chaos.

Die neue Herangehensweise berücksichtigten Everything Everything auch im Entstehungsprozess von Re-Animator. Es gab ein Jahr Vorbereitungszeit vor den eigentlichen Aufnahmen, die dann innerhalb von zwei Wochen mit Produzent John Cogleton ( St. Vincent, Angel Olsen, Sharon Van Etten, Future Islands) in den Londoner RAK Studios durchgezogen wurden. „Wir wollten Songs schreiben. Wir haben zuvor Platten gemacht, die eine bestimmte Klangpalette hatten, sich von der Welt um uns herum inspirieren ließen oder bestimmte Werkzeuge verwendeten – wie bei der letzten Platte das modulare Synth-Zeug. Oder Techniken, die Bands normalerweise nicht verwenden. Aber diesmal wollte ich Songs mit Harmonien und Melodien schreiben. Wir wollten auf die Stücke eher blicken mit dem Ansatz: ‚Wie würde Neil Young schreiben?‘ als uns an einem besonders ausgefallenen Drumbeat abzuarbeiten“, sagt Gitarrist Alex Robertshaw. Der Produzent habe dabei sowohl Sensibilität als auch Energie beigetragen, sagt Pritchard: „Wir wollten Schönheit hereinlassen und einen ehrlichen, aufrichtigen, klaren Sound erzeugen. Wir haben solche Dinge in der Vergangenheit vielleicht absichtlich verschleiert, weil wir das Gefühl hatten, dass sie abgeschmackt und naiv sind. Es war schön, jetzt ganz befreit damit arbeiten zu können.“

Das beinahe straighte The Actor zeigt am deutlichsten die Resultate dieses Ansatzes. Auch, weil es weniger frickelig ist als das übliche Oeuvre dieser Band, wird es so einnehmend und elegant. „Wir hatten die Vorgabe, dass jeder Song von mir auf der Akustikgitarre spielbar sein musste. Und ich sage bewusst ‚von mir’, weil ich ein ziemlich durchschnittlicher Gitarrist bin“, sagt Higgs, und Robertshaw fügt hinzu: „Es ging darum, diesen Anspruch in unsere musikalische Welt zu übersetzen. Oder die aufregendste Art zu finden, dieses Lied darzustellen.“ Arch Enemy zeigt, wie zupackend die Weniger-Ist-Mehr-Politik klingen kann. „Auf den ersten Blick geht es um einen Mann, der im täglichen Leben eine Stimme hört, die er als Gott bezeichnet. Aber in Wirklichkeit ist es ein Berg aus Fett in der Kanalisation, zu dem er betet: ‚Komm wie die Sintflut und überschwemme diese Länder mit Fett.‘ Der Fettberg ist eine Metapher für Verschwendung und Gier und Klimawandel“, erklärt Higgs. Spearman ergänzt sehr zutreffend: “Arch Enemy demonstriert etwas, in dem wir meiner Meinung nach wirklich gut sind: den absurden, respektlosen lyrischen und musikalischen Wagemut.“

Gerade die Texte zeigen hier immer wieder, wie viel Reflexion und Abenteuerlust auch mit dem Ansatz von mehr Unmittelbarkeit und Reduktion weiterhin bei Everything Everything zu finden sind. In Birdsong, das zugleich das unfassbar starke Finale dieser Platte einläutet, hat eine stoische Bass-Drum als Fundament, alles andere ist umso freigeistiger, der Text blickt auf die rapide zurückgehenden Populationen bei Singvögeln und damit auf das Verschwinden eines Klangs, der bisher immer um uns war. „Der Gesang von Vögeln hat das menschliche Leben begleitet, seit wir überhaupt Menschen sind, aber im vergangenen Jahrhundert wurde er übertönt oder aus unserem Leben verdrängt. In dem Lied geht es darum, Vogelgezwitscher zu hören als Zeichen dafür, dass wir bei Bewusstsein und lebendig sind“, sagt Higgs. „Mit weniger Autos und Flugzeugen und insgesamt weniger menschlichen Eingriffen könnten wir alle die Gelegenheit bekommen, uns für einen kurzen Moment wieder mit der wiederauflebenden Natur und dem Umgebung zu verbinden.“

Big Climb könnte gar als Umweltschutz-Hymne durchgehen. „Ich wollte etwas Großes im Stile von Tears For Fears oder Peter Gabriel machen, also habe ich extra für diesen Song einen neuen Synthesizer gekauft.“, erzählt Robertshaw. Mehr noch als dieses Instrument prägt eine große Entschlossenheit den Song. Die Refrainzeile “Not afraid that it’ll kill us, yeah / we are afraid that it won’t”, fasst die Wut der Jugend auf das Chaos, die Zerstörung und die verbrauchten Ressoucen zusammen, die vorherige Generationen zurückgelassen haben. Der absolute Höhepunkt von Re-Animator findet sich indes ganz am Ende. Violent Sun betrachtet Higgs selbst als „the biggest song we’ve ever written” und benennt dabei New Order, Bruce Springsteen und den Gedanken an den letzten Song der Nacht in einem Club als Inspiration. „Die Lichter gehen an, der DJ sagt, dass sie nur noch diesen einen Song spielen werden, und du scheißt dich selbst ein: Wird dies das Lied sein, das dir helfen wird, den Jungen zu küssen? Das Mädchen zu küssen? Den Typen zu verprügeln, der die ganze Zeit provoziert? Teenager-Blödsinn in dieser Art. Das Lied will dieses Gefühl von Torschlusspanik, aber auch die totale Euphorie einfangen. Es ist das Lied, auf das ich am meisten stolz bin. Es klingt nicht nach uns, und die Melodie ist so gut. Hier kommt alles zusammen.“ Recht hat er.

Geb die Welt nicht in die Hände von Anzugträgern, sagt das Video zu Big Climb.

Website von Everything Everything.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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