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Extrem schön – Dorian Gray bei RTL2

Sylvia schämt sich so sehr für ihr Aussehen, dass sie kaum aus dem Haus geht - eine OP soll helfen. Bild: RTL2
Sylvia schämt sich so sehr für ihr Aussehen, dass sie kaum aus dem Haus geht - eine OP soll helfen. Bild: RTL2

Ein 20-köpfiges Team begleitet die Protagonisten bei Extrem schön in jeder Staffel. Keiner von all den Chirurgen, Zahnärzten, Psychologen und Stylisten heißt Oscar. Keiner von ihnen heißt Wilde. Auch die Namen «Dorian» und «Gray» sucht man vergebens in der Liste der Macher der Schnippeldoku von RTL2.

Schaut man sich Extrem schön an, dann ist Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde trotzdem allgegenwärtig. Denn die uralte Geschichte des Romans aus dem Jahr 1890 wird hier in jeder Folge neu erzählt. Es ist der Traum von einem neuen Ich (Endlich ein neues Leben, heißt schließlich der Untertitel der Sendung), von Makellosigkeit und vom Vergessen alter Sünden.

Dorian Gray ist ein hübscher junger Mann. Er erblickt ein Porträt von sich und wünscht sich, das Gemälde würde an seiner Stelle altern, und er könne dafür ewig jung bleiben. Sein Wunsch erfüllt sich: Dorian Gray bleibt ein strahlender Schönling, während sich in seinem Gesicht auf dem Bild nach und nach nicht nur die Spuren des Alters abzeichnen, sondern auch all die Laster, Fressorgien und anderen Sünden, die Dorian Gray im Laufe der Jahre begeht.

So ähnlich stellt sich wohl auch Sylvia ihren Auftritt bei RTL2 vor. «Mein Spiegelbild – ich mag’s nicht sehen. Ich erschreck mich manchmal selbst davor», sagt die 45-jährige Reitlehrerin. Die zweifache Mutter leidet schon seit Jahren derart unter ihrem Körper, dass sie sich kaum mehr vor die Tür traut. Ihr Mann hat sie nach zwölf Jahren Ehe verlassen, weil sie auch vor ihm ihren Körper verbergen wollte. Auch die beiden Kinder wundern sich, warum die Mutter keine Nähe zulassen kann. Alle Hoffnungen setzt sie nun auf RTL2: Nach den 42 Minuten von Extrem schön will Sylvia ein neuer, strahlender Mensch sein, und ihre hässliche Vergangenheit soll unsichtbar werden wie das Bildnis des Dorian Gray, das von ihm in einer dunklen Dachkammer versteckt wird.

Ganz ähnlich sieht die Biografie der 43-jährigen Elke aus: Sie fühlt sich alt und entzieht sich am liebsten jeder Berührung. Ihr Ex-Mann hat ihr 15 Jahre lang eingeredet, sie sei hässlich. Auch sie sagt einen Satz in die Kameras, der von Dorian Gray stammen könnte: «Ich hoffe, wenn ich in den Spiegel schau, dass mir da jemand entgegen schaut, den ich mag.»

Natürlich sind die Experten von RTL2 da gerne zur Stelle. Sylvia legt sich insgesamt neun Stunden unters Messer und bekommt in ihrem Operationsmarathon neue Zähne für den Oberkiefer, ein Lifting, eine Nasenkorrektur und größere Brüste. Elke darf sich nach mehrwöchigen Behandlungen ebenfallls über ein strafferes Gesicht und straffere Brüste freuen.

Beide sind, gemessen an den Standards von Extrem schön, keine besondere Härtefälle – weder von ihrer Leidensgeschichte her noch von ihrem Äußeren. Bei Sylvia scheint schon die Nachricht zu genügen, dass sie an der Sendung teilnehmen darf, um ihr neuen Lebensmut zu geben. Elke ist frisch verliebt und hat vier Kinder, die sich eifrig um sie bemühen – auch das ist keineswegs Standard im Dokusoapland.

Umso mehr muss man sich im Verlauf der vorletzten Folge der aktuellen Staffel wundern. Warum können diese Frauen nicht akzeptieren, dass sie älter werden? Warum können sie einem Mann, der sie liebt, nicht ihre Brüste zeigen – präsentieren sie aber bereitwillig einem Millionenpublikum im Fernsehen? Warum erhoffen sie sich von einem chirurgischen Rundumschlag plötzlich die Lösung aller Probleme? Warum sagt ihnen niemand, dass ein Gesicht auch eine Identität ist? Dass es womöglich auch für die Psyche gesünder ist, die authentischen Spuren seiner Biografie zu tragen, als eine Lüge zu leben? Das Gesicht trägt «das Geheimnis seines Lebens und erzählt seine Geschichte», schreibt Oscar Wilde über Dorian Gray.

Was sein Romanheld erkennen muss: Die Trennung von außen und innen funktioniert nicht. Der ewigschöne Dorian Gray wird paranoid, herrisch, ein unausstehlicher Mensch. Am Ende des Romans zerstört Dorian Gray sein eigenes Porträt – es ist seine letzte Hoffnung, um wieder in seine echte Rolle schlüpfen zu können. Der Tausch gelingt, und er wird zum Selbstmord der Figur: Das Bildnis ist plötzlich wieder strahlend schön, Dorian Gray ist eine unförmige Leiche mit einem «verlebten, runzeligen, widerwärtigen Gesicht». Bestimmt kein schöner Anblick, sicher ein dankbares Einsatzgebiet für die RTL2-Chirurgen – aber immerhin sein wahres Ich.

Diesen Artikel gibt es mit einer Fotostrecke zu Extrem schön auch bei news.de.

Die komplette Folge von Extrem schön gibt es hier in der Mediathek von RTL2.

Quelle:
News
Medien News
«Extrem Schön» – Der Horror im Spiegelbild

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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