Hidden Orchestra – “Dawn Chorus”

Künstler Hidden Orchestra

Dawn Chorus Hidden Orchestra Kritik Rezension
Mit vielen Field Recordings arbeitet das Hidden Orchestra auf “Dawn Chorus”.
Album Dawn Chorus
Label Tru Thoughts Records
Erscheinungsjahr 2017
Bewertung

Night Walks hieß im Jahr 2010 das Debütalbum des Hidden Orchestra. Produzent und Komponist Joe Acheson, der Kopf des Kollektivs aus Brighton, ist aber längst nicht nur nachts gerne draußen unterwegs. Auch die frühen Morgenstunden haben es ihm angetan, und in dieser Tageszeit liegen auch die Wurzeln von Dawn Chorus. Irgendwann im Dezember 2008 war er um 5 Uhr draußen im Schnee unterwegs und hörte Vogelgezwitscher, das er dann aufzeichnete und nun in First Light eingebaut hat, den Auftakt zum dritten Album seiner Band. „Wenn man sich diese alten Außenaufnahmen anhört, fühlt es sich so an, als würde man ein altes Foto betrachten“, sagt er. „Man schließt seine Augen und wird sofort an Ort und Stelle zurücktransportiert. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich an dem Tag gefühlt habe, was ich getan habe und mit wem ich da war.“

Man merkt: Wo ein normaler Mensch ungefähr 80 Prozent seiner Informationen über die Außenwelt mit den Augen aufnimmt, bewegt sich Joe Acheson in erster Linie mittels seiner Ohren durchs Leben. Neben Vogelstimmen hat er auf Dawn Chorus auch etliche andere Field Recordings integriert, etwa eine Dunstabzugshaube aus Tallinn, ein tropfendes Abflussrohr aus Innsbruck, Tiere von den Äußeren Hebriden und sogar das Zischen eines Gin Tonic zuhause in Brighton. „Eine Art persönliches Audio-Tagebuch, Zeitkapsel oder Memoir“ nennt er das Album, auf dem wieder die vertrauten Hidden-Orchestra-Mitstreiter Jamie Graham und Tim Lane (beide Schlagzeug) sowie Poppy Ackroyd (Klavier und Geige) mitgewirkt haben.

Für die Single Still hat Acheson mit dem tschechischen Quartett Clarinet Factory zusammengearbeitet, dessen geheimnisvolle Blasinstrumente werden hier angereichert von wilden Breakbeats und ebenfalls Vogelgezwitscher, was für eine sehr abwechslungsreiche Dynamik sorgt. Im siebeneinhalbminütigen Wingbeats, das schon auf der gleichnamigen 2016er EP enthalten war, hat er sogar den Rhythmus aus gesampelten Flügelschlägen gebastelt, auf diesem Fundament geben zuerst Streicher den Ton an, dann Bläser.

Die Gitarrentöne in Alyth scheinen eine Spirale zu bilden, die sich um das erneut sehr sanfte Beat-Fundament windet, Stone wirkt arabisch angehaucht, wenn in Western Isles der dezente Bass einsetzt und dann sogar ein federnder Beat, wirkt das in diesem sonst durchweg sehr dezenten Kontext fast erschreckend rabiat. Der mehr als elf Minuten lange Album-Schlusspunkt East London Street ist so traurig und würdevoll, dass man ihn sich gut im Abspann von Schindlers Liste hätte vorstellen können. Ohnehin setzt Dawn Chorus immer wieder ein sehr lebendiges Kopfkino in Gang. Dass das Hidden Orchestra für seine Konzerte gefeiert wird, in denen die Musik von aufwendigen Visuals begleitet wird, glaubt man sofort.

Für Dawn Chorus hat Acheson auch einige Elemente aus dem Archiv genutzt. Die Single Serpentine basiert auf einem Song, den er vor einigen Jahren für BBC Radio 3 und die Serpentine Gallery komponiert hat. Als Klangelemente dafür nutzt er Geräusche der Ausstellung und allerlei Sounds aus dem Hyde Park, in dem die Gallerie eingebettet ist: Vögel, Pferde, Wasser. Die Quelle von Long Orchard, das man sich gut als Soundtrack für einen sehr modernen Horrorfilm vorstellen könnte, liegt noch weiter zurück, wie Acheson erläutert: „Auf dem linken Lautsprecher hört man meinen Onkel, wie er auf dem Klavier meiner Großmutter spielt – aufgenommen von meinem Vater auf einem einem alten Tonbandgerät im Jahre 1966; ich spiele den selben Part (zu hören auf dem rechten Lautsprecher), auf dem selben Piano fast fünfzehn Jahre später, kurz bevor es bei einer Auktion versteigert wurde.“

The Lizard fußt auf Bestandteilen der EP Marconi & The Lizard, die 2016 als Auftragsarbeit für den National Trust und die British Library in einer Künstlerresidenz des Radio-Pioneers Guglielmo Marconi am Lizard Point in Cornwall entstanden ist. Auch hier ist das Vogelzwitschern wieder ein wichtiges Element, zudem hat der Track eine Eigenschaft, die neben dem perfekten Händchen für kunstvolle Klangcollagen zur größten Stärke von Dawn Chorus wird: Der sehr elegante Rhythmus entwickelt auf Dauer eine beträchtliche Kraft.

Die Morgendämmerung im Wald fängt das Video zu Still ein.

Website von Hidden Orchestra.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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