Hingehört: Doldrums – “The Air Conditioned Nightmare”

Künstler Doldrums

Cover des Albums "The Air Conditioned Nightmare" von Doldrums
Auf den Spuren von Henry Miller wandeln Doldrums auf ihrem zweiten Album.
Album The Air Conditioned Nightmare
Label Sub Pop
Erscheinungsjahr 2015
Bewertung

„Honey, let’s get rid of the kids / the pets are allergic to them.“ Wer solche Zeilen schreibt (sie stammen aus dem aufregenden, reduzierten, rotzigen Blow Away, dem zweiten Track dieses Albums), der darf sich auch in den Fußstapfen von Henry Miller wähnen. Denn das tut Airick Woodhead, der 25-jährige Kopf hinter Doldrums, auf dieser Platte.

The Air Conditioned Nightmare trägt den selben Titel wie Henry Millers Essaysammlung aus dem Jahr 1945, in der er seine Eindrücke von der Rückkehr in die USA nach zehn Jahren im Ausland beschreibt. Airick Woodhead hat, als Doldrums nach dem 2013er Debütalbum Lesser Evil auf Tour waren, ganz ähnliche Beobachtungen gemacht. “By coincidence I ended up taking the exact same route Miller took in The Air Conditioned Nightmare and found that much still applied today – like how New Orleans feels like the vast vestige of magic America, or how Vegas remains the ultimate gesture of it’s desperation. As a Canadian, I’m part of that American culture, yet I’m an outsider, too. It’s double-faced.”

Die sehr guten Texte auf The Air Conditioned Nightmare beweisen, was der Mann aus Montreal für ein guter Beobachter ist. Die oft verstörenden Sounds zeigen, wie verwirrend, vielfältig und beängstigend die dabei gewonnenen Eindrücke für ihn sind. “Conflict is at the heart of this album”, sagt Woodhead. “There’s a lot of paranoid sentiment and dystopian imagery in there. The threat of a mundane reality ties it together, as does an obsession with plasticity. Songs come from specific feelings or images. Anxiety is my default state.”

Allein die Bandbreite der drei Singles zeigt den erstaunlich vielfältigen Umgang mit diesem Geisteszustand. Hotfoot lebt vom Kontrast aus wildem Stakkato der Musik und einem Gesang, der im Vergleich dazu fast wie abwesend wirkt. Loops ist ein paar Takte lang ein Hit, ein paar Takte lang ein Geheimnis. My Friend Simjen beweist, dass Doldrums nicht nur Experimentierfreude und Melodieseligkeit kennen, sondern auch Zerstörungswut.

Auch die weiteren Tracks decken ein enormes Klangspektrum ab (das sich auch sonst bei Doldrums findet; so waren sie beispielsweise mit Crystal Castles auf Tour und haben einen Remix für Portishead gemacht). Funeral For Lightning beginnt mit einer Pseudo-Fanfare und wirkt dann ein bisschen, als hätten Blondie nicht auf Rapture, sondern auf Kraftwerk machen wollen, was einen erstaunlich hypnotischen Effekt hat. In Video Hostage, dessen Atmosphäre an Hundreds denken lässt, bringen Doldrums dann behutsam Schicht für Schicht auf wie bei einem Gemälde.

Industry City klingt so, als würden der Rausch eines Raves und die Entspannung des anschließenden Chillouts gleichzeitig stattfinden. Und Closer 2 U, der Schlusspunkt des von Woodhead selbst produzierten Albums, bietet Musik wie Mauern, die rund um die Band einstürzen, oder Eisschollen, über die sie gerade noch tippeln können, bevor sie wegschmelzen.

Wunderbarerweise wird The Air Conditioned Nightmare bei all seiner Intelligenz, seinem scharfen Blick auf die Welt und seiner Vorliebe für experimentelle Klänge niemals kalt, hoffnungslos oder abweisend. Für Platten wie diese gilt wohl das, was laut Henry Miller auch für Theaterstücke gilt: Sie sind “immer auch ein Liebesbrief, gerichtet an die Welt, von der sehnsüchtig eine liebevolle Antwort erhofft wird“.

Verstörend ist auch das Video zu Loops.

https://www.youtube.com/watch?v=rbO1JEWBdoo

Im Juni gibt es drei Deutschland-Konzerte von Doldrums.

02.06.2015: Köln – Studio 672
03.06.2015: Hamburg – Volt
04.06.2015: Berlin – Privatclub

Doldrums bei Facebook.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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