Hingehört: Miss Kittin – “Calling From The Stars”

Künstler Miss Kittin

Auf ihrem dritten Soloalbum hat Miss Kittin erstmals fast alles selbst gemacht.
Auf ihrem dritten Soloalbum hat Miss Kittin erstmals fast alles selbst gemacht.
Album Calling From The Stars
Label Wagram
Erscheinungsjahr 2013
Bewertung

So richtig kann ich mich an diesen Namen nicht gewöhnen. Seit 15 Jahren (eine Ewigkeit im Elektro-Business) ist Miss Kittin im Geschäft, und noch immer komme ich mit diesem Künstlernamen nicht klar. Miss Kittin – das klingt nach Püppchen, nach Pseudo-Sex-Appeal, nach Dumpfbacke. Dabei liefert Caroline Hervé, so ihr eigentlicher Name, genau das Gegenteil: eine faszinierende Stimme, einen klaren Blick fürs Wesentliche und eine erstaunliche emotionale Tiefe.

Das gilt auch auf Calling From The Stars, ihrem dritten Soloalbum. Mit Kollaborationen (Felix Da Housecat oder The Hacker sind da wohl als wichtigste Partner zu nennen) hat sie sehr gute Erfahrungen gemacht, doch diesmal legt Miss Kittin erstmals ein Album vor, das sie fast vollständig selbst geschrieben hat. Gleich 23 Tracks auf zwei CDs gibt es, und man merkt der Musik an, dass sie mittlerweile eine Menge Erfahrung als Sängerin, Songwriterin, Produzentin und DJ vorweisen kann, und dass sie bei einigen der besten gelernt hat.

„There is a lightning in the sky“, heißt die erste Zeile des Albums, im Track Flash Forward, aber sie wird von Miss Kittin nicht gesungen, als würde sie bei diesem Hinweis auf dem Boden stehen und gen Himmel deuten, sondern als beobachte sie das Phänomen aus dem All, von einem fernen, ganz eigenen Planeten. Auch Calling From The Stars deutet auf diese Perspektive hin. Der Titelsong beginnt mit einer Stimme wie von einer Entspannungs-CD und liefert dann das höchst verführerische Versprechen: „I’m taking you out for the night of your life.“

Das sphärische Eleven oder Night Of Light (so etwas wie Saint Etienne in der Unterwelt) könnte man sich ebenfalls gut als Hintergrundmusik auf der Raumstation ISS vorstellen, der andere nahe liegende Lebensraum für die Tracks der Französin ist natürlich der Club. Come Into My House stellt die acht Gebote der Tanzreligion auf, Bassline ist eine feine New-Rave-Reminiszenz, Blue Grass wird enorm zupackend und auch Life Is My Teacher macht deutlich, dass der Unterrichtsraum von Miss Kittin ganz offensichtlich meist die Tanzfläche war.

Zu den Höhepunkten gehört das sehr kurzweilige Maneki Neko (mit einem Künstlernamen wie ihrem muss man wohl eine Vorliebe für Winkekatzen haben), in dem Französisch und Japanisch eine unerwartete Symbiose eingehen. Auch Tears Like Kisses ragt heraus, ein aggressiver Beat trifft auf schüchternen Gesang, und passend zu diesem Gegensatz singt Miss Kittin: „I’m only crying / because I’m happy“.

Es gibt noch mehr vergleichsweise besinnliche Momente: What To Wear klingt wie Lykke Li in der Sinnkrise, See You offenbart die erstaunliche Erkenntnis, dass Weltschmerz manchmal bloß vom Nicht-Unglück der anderen ausgelöst wird. Den Vogel schießt Miss Kittin allerdings mit dem letzten Track auf CD 1 ab: Eine kurze Begegnung mit Michael Stipe inspirierte sie zu einer Coverversion von REMs Everybody Hurts. Ihre Interpretation ist in fast provokantem Ausmaß reduziert: Es gibt einen Hi-Hat-Beat, den man kaum so nennen mag, eine Spielzeugorgel und später unentschlossene Synthetikstreicher. Das wirkt, als wollte Miss Kittin sagen: „Seht her, wie simpel! Zwei läppische Akkorde und ein billiger ¾-Takt – mehr braucht man nicht für einen Klassiker.“

CD2 von Calling From The Stars setzt dann weitgehend auf Ambient Techno, meist ohne Beat, oft auch ohne Text, mit einem angenehmen Flair von Rave in der Nachmittagssonne. Miss Kittin sieht diese zehn Tracks als „reiner Ausdruck von Gefühlen, Raum und Soundstrukturen“. Ich sag’s doch: ein klarer Blick für das Wesentliche.

Miss Kittin gibt Auskunft über Calling From The Stars:

Homepage von Miss Kittin.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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