Slowdive – “Slowdive”

Künstler Slowdive

Slowdive Albumkritik Rezension
Nach 22 Jahren haben Slowdive ein neues Album gemacht.
Album Slowdive
Label Dead Oceans
Erscheinungsjahr 2017
Bewertung

Deana Carter steht auf Platz 100 mit Angel Without A Prayer. Drei Plätze weiter oben rangieren 2wo Third3 mit I Want To Be Alone. Sogar die Top40 haben Escrima mit Train Of Thought erreicht. So sahen die britischen Single-Charts am 6. Februar 1995 aus. Es war der Tag, an dem Pygmalion erschien, das dritte Album von Slowdive. Die Platte schnitt deutlich schlechter ab als die eingangs erwähnten Acts. Gerade einmal für Platz 108 reichte es. Eine Woche später flogen Slowdive bei ihrer Plattenfirma raus und lösten sich auf.

Es wäre das normalste der Welt gewesen, hätten sie das Schicksal von 2wo Third3 & Co. geteilt und wären ein längst vergessener Act. Schließlich hatte die 1989 gegründete Band bis zu ihrem Ende keinen einzigen Hit vorzuweisen und keine einzige Veröffentlichung jemals auch nur in die Top30 gebracht. Selbst die anfangs begeisterten Kritiker konnten sie schon nach dem Debütalbum 1991 nicht mehr leiden, von Musikerkollegen ganz zu schweigen: “I hate Slowdive more than Hitler”, lautet ein legendäres Zitat von Richey Edwards (Manic Street Preachers).

Irgendetwas muss nach dieser wenig ruhmreichen Karriere allerdings passiert sein. 2002 erschien ein Slowdive-Tributalbum. Ein paar Jahre später erlebte Gitarrist Christian Savill sogar in seiner neuen Heimat in den USA während seines Jobs in einem Bioladen die wachsende Anerkennung für seine frühere Band. “Kids started coming in and asking if it was true I had played in Slowdive. That’s when I started thinking, ‘OK, this is weird!'” Mittlerweile berufen sich etliche erfolgreiche Acts auf die Musik der Engländer. Als Fans haben sich beispielsweise Beach House, Grizzly Bear oder The 1975 bekannt. Als Slowdive sich 2014 wieder zusammentaten und auf Tour gingen, spielten sie bei großen Festivals plötzlich vor einem Publikum in fünfstelliger Anzahl. Am Freitag veröffentlichen sie mit Slowdive ihr erstes Album seit dem eingangs erwähnten Pygmalion vor 22 Jahren.

Was ist da bloß passiert in der Zwischenzeit? “We were always ambitious. Not in terms of trying to sell records, but in terms of making interesting records. Maybe, if you try and make interesting records, they’re still interesting in a few years time”, lautet der Erklärungsansatz von Neil Halstead, dem Kopf der Band. Er betont auch, dass nach dem Live-Comeback sofort klar war, dass es neue Musik von Slowdive geben würde: “When you’re in a band and you do three records, there’s a continuous flow and a development. For us, that flow re-started with us playing live again and that has continued into the record.”

Diesen Schwung hört man der Platte vor allem dann an, wenn man weiß, dass Slowdive in erster Linie als Pioniere des Shoegaze wahrgenommen (und von den Nachgeborenen verehrt) wurden. Shoegaze bedeutet: Musik, die so ruhig und introvertiert ist, dass die Musiker dabei nicht einmal das Publikum anschauen, sondern lieber auf den Boden beziehungsweise ihre eigenen Schuhe starren. Mit dem neuen Album, das sie in ihrem Studio “The Courtyard” in Oxfordshire aufgenommen haben, zeigen Slowdive, dass diese Betrachtungsweise deutlich verkürzt und viel zu eindimensional ist.

Natürlich gibt es auch diesmal lange instrumentale Passagen oder Lieder, die beinahe experimentell zu nennen sind. Der Beat im Album-Auftakt Slomo beispielsweise kehrt geradezu die Technologiegeschichte um: Er ahmt mit echtem Schlagzeug einen frühen Drumcomputer nach, so wie einst die ersten Drumcomputer ein echtes Schlagzeug imitiert hatten. Dazu kommt viel Hall, vor allem auf den Stimmen, sodass der Text kaum zu identifizieren ist. Der Song zeigt damit: Eine Attitüde von Zurückhaltung, Wegducken und Schüchternheit muss noch lange keine Langeweile bedeuten. No Longer Making Time ist transparent in dem Sinne, dass das Lied genau erkennbar macht, wie es aufgebaut ist, ohne dass man jedoch erklären könnte, wie dabei die Magie entsteht, die zweifelsohne darin steckt. Falling Ashes setzt vor allem auf ein verloren wirkendes Klavier, auch als dann erst eine Gitarre und schließlich die Stimmen hinzukommen, gilt: Mehr Behutsamkeit kann man nicht in ein Lied packen.

Aber in Slowdive steckt auch unerwartet viel Dynamik und Glanz. Star Roving bietet nicht nur reichlich Effekte, sondern auch beträchtlichen Punch. Everyone Knows setzt auf die bekannte Wall Of Sound, zugleich könnte das mit einem minimal veränderten Arrangement und verdoppelter Geschwindigkeit aber auch ein Punksong sein. “I want to see it / I want to feel it”, singt Halstead in Go Get It, und nicht nur diese Zeilen zeigen: Hinter all der Watte, all dem Nebel, kann bei dieser Band auch Furor stecken. Sugar For The Pill verbreitet eine wundersame Atmosphäre, in der bei aller vermeintlichen Fluffigkeit doch ein spürbares Maß an Verzweiflung enthalten ist. Auch im entrückten Don’t Know Why, das Rachel Goswell singt (die das neue Album als einen “trip down memory lane” bezeichnet), überrascht zwischendurch mit einer Passage, die das Tempo anzieht und beinahe energisch zu nennen wäre.

“It’s poppier than I thought it was going to be”, wundert sich Halstead selbst ein wenig über die Ergebnisse der ersten gemeinsamen Arbeit nach 22 Jahren, auch angesichts des vergleichsweise sperrigen Vorgängers. Auch Schlagzeuger Simon Scott meint, die Band sei während der Arbeit an Slowdive gewissermaßen unterbewusst von ihren ursprünglichen Zielsetzungen abgerückt: “Neil is such a gifted songwriter, so the songs won. He has these sparks of melodies, like Sugar For The Pill and Star Roving, which are really special. But the new record still has a toe in that Pygmalion sound. In the future, things could get very interesting indeed”, kündigt er an. Dass der Blick nach der enorm langen Pause nun wieder nach vorne und in Richtung Produktivität gerichtet ist, bestätigt auch Neil Halstead: “I don’t know where we’d have gone if we had carried straight on. Now we’ve picked up a different momentum. It’s intriguing to see where it goes next.”

Auch ins Video zu Don’t Know Why kommt am Ende eine erstaunliche Eskalation.

Website von Slowdive.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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