Hingehört: Customs – “Enter The Characters”

Customs beweisen: Auch Belgier können Düsterdisco.
Customs beweisen: Auch Belgier können Düsterdisco.
Künstler Customs
Album Enter The Characters
Label Emi
Erscheinungsjahr 2010
Bewertung ***

So etwas nennt man wohl einen Senkrechtstarter. Vor gerade einmal einem Jahr haben Customs ihr erstes Konzert gespielt. Ihr Debütalbum Enter The Characters wird in ihrer belgischen Heimat demnächst Goldstatus erreichen. Und ein knappes Jahr, nachdem sie sich an einem Radio-Wettbewerb beteiligt hatten, der zum Startschuss ihrer Blitzkarriere werden sollte, ließen sie eben jene Platte von Geoff Pesche (Coldplay, Arctic Monkeys) in den Abbey-Road-Studios mastern. Weil sie bis dahin fast alles an der CD selbst gemacht hatten, war noch genug Geld übrig, um sich das leisten zu können. “Das ist ein perfektes Beispiel dafür, dass man immer denkt, manche Dinge wären unmöglich. Aber wenn man es versucht, entpuppen sie sich als kinderleicht”, sagt Sänger Kristof Uittebroek.

Auch wenn Customs keine Jungspunde mehr sind und die Musikerkarriere nach vergeblichen Anläufen in anderen Bands fast schon aufgegeben hatten, ist es die mittlerweile klassische Geschichte von Aufmerksamkeit im Internet, dem Durchbruch-Song und dem Siegeszug danach. Die steile Karriere ist durchaus nachzuvollziehen, wenn man das morgen erscheinende Enter The Characters hört. Denn Customs bieten ein sehr aktuelles, tanzbares und kompetentes Rockalbum ab, das keinen Deut schlechter ist als die offensichtlichen Vorbilder Interpol oder Editors.

The Matador, das nach einem ebenso seltsamen wie überflüssigen Intro den Auftakt macht, ist zugleich energisch und elegisch. Rhythmus und Virtuosität lassen an die kraftvolleren Momente von Bloc Party denken, doch der Sound schillert hier nicht, sondern ist in Nebel getaucht. Auch bei Justine, das mit seinem Hitpotenzial an die White Lies erinnert, funktioniert dieses Konzept wunderbar. Tonight We All Stand Out ist mit verspielter Gitarre und luftigem Refrain eine sehr gelungene The Cure-Referenz.

Kein Wunder, dass die Belgier stolz auf diese Band sind. Man kennt diesen Effekt auch aus Deutschland. Wenn da plötzlich jemand, wie es dann gerne heißt, “auf internationalem Niveau” musiziert, dann kann man kurz mal seinen popkulturellen Minderwertigkeitskomplex vergessen und eine Band mit einem satten Patriotismus-Bonus ausstatten. Es gibt dabei aber ein Problem, das auch auf Customs zutrifft: Im Nacheifern der Vorbilder und im Nachformen der angesagten Klangbilder geht mitunter die Eigenständigkeit verloren.

Enter The Characters hat noch ein Problem. Schon bei Rex, dem gerade erst fünften Song, wünscht man sich ein wenig Abwechslung vom ewig gleichen Beat aus der Düsterdisco. An dieser Stelle eine Ballade (die dann aber erst vier Stücke später mit dem sehr gelungenen There’s Always Room For One More Poledance kommt), und die Dynamik des Albums hätte deutlich gewonnen.

Stattdessen liefern Customs ein sehr solides, stimmiges New-Wave-Album ab. In der zweiten Hälfte drängen sich die älteren Vorbilder (immer wieder Joy Division, Echo & The Bunnymen) ein bisschen mehr in den Vordergrund. Das etwas zurückgenommene Violence und das kompakte We Are Ghosts ragen heraus. Doch auch hier klingt vieles weiter wie am Reißbrett entworfen, was Uittebroek gar nicht abstreitet. Die Songs von Customs haben “etwas sehr Mathematisches, sehr Geometrisches”, sagt er. Für das nächste Album wünscht man sich trotzdem, dass Customs ein bisschen öfter von der etablierten Erfolgsformel abweichen. In einem Punkt kann man sich recht sicher sein: Bis zur nächsten Entwicklungsstufe wird es beim Tempo dieser Band nicht lange dauern.

Im Clip zu Justine streben Customs nach dem Himmel über Berlin:

httpv://www.youtube.com/watch?v=YkP3fG4e-kw

Customs bei MySpace.

Diesen Artikel gibt es auch bei news.de.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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