Hingehört: Julia Marcell – “June”

Auf Julia Marcells "June" dominiert ein Rhythmus, den man niemals bloß Beat nennen darf.
Auf Julia Marcells “June” dominiert ein Rhythmus, den man niemals bloß Beat nennen darf.
Künstler Julia Marcell
Album June
Label Haldern Pop
Erscheinungsjahr 2011
Bewertung ***1/2

Ortswechsel waren entscheidend für den Klang von June, dem zweiten Album von Julia Marcell. Zum einen hat sie ihre polnische Heimat verlassen und lebt jetzt in Berlin. „Ich musste meine kleine, heile Welt genauso verlassen wie meine musikalische. Ich wollte wissen, was der kreative Kosmos noch für mich bereithält“, sagt sie. Noch wichtiger aber waren andere Ortswechsel: Als sie nach ihrem hoch gelobten Debüt It Might Like You (2008) auf Tour ging, machte Julia Marcell zum ersten Mal die Erfahrung, wie es ist, live mit einem Schlagzeuger zu spielen. Und das hat den Sound von June nachhaltig beeinflusst.

Überall hier ist der Rhythmus dominant, doch niemals sollte man es wagen, ihn leichtfertig „Beat“ zu nennen. Das klassische Bum-Tschak mit Bass-Drum und Snare gibt es hier quasi nicht. Stattdessen wird viel mit den Toms und ab und zu auch mit Percussions gearbeitet, was ein enormes Spektrum an Möglichkeiten eröffnet.

Schon zu Beginn, nach den niedlichen ersten Momenten mit Glockenspiel und einem entrückten lalala-Gesang wird im Titelsong mächtig auf die Pauke gehauen. Das ungeduldige Since ist clever verschachtelt. CTRL, das als vielleicht poppigstes Stück dieser Platte Erinnerungen an Annie, MIA oder die Ting Tings weckt, setzt auf Steel Drums und einen ultratiefen Bass. Auch Crows ist vergleichsweise kompakt und bekommt durch die wilden Drums eine ganz eigene Dynamik.

Der zweite Fixpunkt bleibt aber auch auf June, das wie schon It Might Like You von Moses Schneider (Tocotronic, Beatsteaks) produziert wurde, natürlich die Stimme von Julia Marcell. Wenn sie in Shhh zu einem ganz dünnen Beat (oops, jetzt ist mir das Wort doch rausgerutscht) fast acapella singt, dann dürfte das La Roux mächtig neidisch machen. Im packenden Gamelan klingt sie kurz wie Shirley Manson von Garbage (und hat zudem die Zeile „I don’t know what I want / But I want it now“ eingebaut, was hoffentlich als kleiner Verweis auf Mr. Vain gemeint ist). Und wenn im schrägen Echo plötzlich ein polnischer (?) Background-Chor erklingt, garniert von ganz edlen Streichern, dann sind Joanna Newsom oder Regina Spektor nicht mehr weit.

Vor allem aber ist auf June wieder einmal der riesige Einfluss von Kate Bush unverkennbar. Nicht nur im Gesang von Julia Marcell, sondern auch in ihrer Herangehensweise. „Die neuen Songs stehen mehr für sich selbst. Sie wollen keine Geschichte erzählen, von A nach B führen. Sie bewegen sich im Raum. Hypnotisch und rhythmisch erzeugen sie eine ganz bestimmt Atmosphäre. Sie sind wie Bilder, ganz im Gegensatz zur Literatur des letzten Albums. Ich konstruiere die Stücke vom Rhythmus her und lasse die Melodie folgen“, erklärt Julia Marcell ihr Songwriting – und besser kann man den Klang von June kaum in Worte fassen.

Die elf Lieder oszillieren nicht nur gekonnt zwischen Electro, Pop und Klassik, sondern sie oszillieren auch in sich selbst. Matrioszka beispielsweise ist enorm komplex, mit Streichern, ganz hoher Stimme und Panflöte, und eröffnet – nomen est omen – immer neue Dimensionen. Das zurückgenommene I Wanna Get On Fire hat all die Spannung und Intensität einer Björk-Ballade. Und Aye Aye, das ganz am Ende von June steht, ist kaum zu fassen in seiner Souveränität und Größe. Mächtige Bläser erklingen da, ein stoischer Bass und ein Chor von Sirenen im Hintergrund. Ganz viel Anspruch steckt in diesem Lied, natürlich ebenfalls wieder ein ganz vertracktes Schlagzeug, und trotzdem behält es seine Unmittelbarkeit. Genau das ist es, was Julia Marcell wollte: „Ich experimentiere viel mit den metrischen Strukturen und auch mit Polyrhythmik. Doch in ihrem Herzen, in ihrer Direktheit sind es Popsongs.“

Backe, backe Kuchen: Das hübsche Video zu Matrioszka scheint die Botschaft zu vermitteln: Du bist, was du isst:

httpv://www.youtube.com/watch?v=7jVk9csScOA

Julia Marcell bei MySpace.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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