"Palindrome Hunches" ist entspannt, organisch und gelegentlich opulent.

Neil Halstead – “Palindrome Hunches”

Künstler*in Neil Halstead

"Palindrome Hunches" ist entspannt, organisch und gelegentlich opulent.
“Palindrome Hunches” ist entspannt, organisch und gelegentlich opulent.
Album Palindrome Hunches
Label Sonic Cathedral
Erscheinungsjahr 2012
Bewertung

Musikunterricht? Ich kenne keinen einzigen Rockstar, der gerne daran zurückdenkt oder seine spätere Karriere gar auf die Frühförderung von Frau Müller mit dem strengen Blick zurückführt. Neil Halstead hat sein neues Album Palindrome Hunches trotzdem im Musikzimmer einer Grundschule aufgenommen. Nicht, weil der Mann aus Cornwall vielleicht mittlerweile vergessen hat, wie unwohl man sich zwischen Notenblättern und Blockflöten fühlen kann – schließlich liegt die Schulzeit des 42-Jährigen, der als Ex-Frontmann von Slowdive und Mojave 3 auf mittlerweile 23 Jahre im Musikgeschäft zurückblicken kann, schon eine Weile zurück. Sondern weil er sich woanders noch unwohler fühlte.

“At first we were going to record in a studio but everything seemed too clean—there’s something about proper facilities that’s a wee bit sterile”, sagt Halstead. Für sein drittes Soloalbum zog er also gemeinsam mit seinen Mitstreitern in den Musikraum der Fir Tree Primary School in Wallingford, wo die Kinder von Produzent Nick Holton zur Schule gehen. Was die Band vorfand, war “a proper music room with lots of little drums and glockenspiels and triangles everywhere”, erinnert sich Neil Halstead, und plötzlich stimmte die Atmosphäre: “We just went through the songs and recorded them live without very much rehearsal. We wanted to be spontaneous and simple and to keep the little mistakes that sneaked in. The hardest thing really was to resist putting on a glockenspiel on every track.”

Man hört Palindrome Hunches diese Entstehungsweise an. Alles ist organisch, intim, entspannt, ursprünglich, ein bisschen zurückhaltend. Zauberhafte Folk-Melodien hat Neil Halstead auf Lager und einen Sound, der im Schlafzimmer genauso gut funktioniert wie beim Waldspaziergang oder während einer Autofahrt in der Abenddämmerung.

Der Titelsong ist ein gutes Beispiel dafür, und auch da war Spontaneität gefragt. Denn ursprünglich wollte Neil Halstead das ganze Lied aus Palindromen zusammenbauen. “I wanted to write a song that was the same forward and backward but it didn’t quite work out,” gibt er zu. Die Idee, dass Dinge auch genau andersherum betrachtet werden können, gefiel ihm trotzdem so gut, dass er daraus den Albumtitel entnahm. Und immerhin eine halbe Palindrom-Zeile gibt es dann doch noch, zu einer Klaviermelodie, die symmetrisch auf- und absteigt: “Do geese see God? / I don’t suppose they do.”

Natürlich stehen bei solch zurückhaltender Musik auch sonst die Texte im Mittelpunkt. In das wunderhübsche Bad Drugs and Minor Chords, das wie eine noch melancholischere und noch zerbrechlichere Version von Belle & Sebastian klingt, packt er die entlarvende Zeile “I’m just a boy and I got no style.” Wittgenstein’s Arm, das mit seinem schönen Harmoniegesang besticht, erzählt die wahre Geschichte eines Pianisten aus Österreich, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verlor (und zudem noch drei Brüder, die sich alle das Leben nahmen). Bei Zeilen wie “Death runs deep in this family / Write a song for the left hand only / I lost my arm in the first great war / Wish I never learned that piano before”, spurt man auch beim vierten und fünften Hören noch einen Schauer auf dem Rücken.

Hey Daydreamer wirkt dank der ganz hohen Stimme kurz vor Schluss des Albums wie eine der ganz intimen Klavierballaden von Neil Young. “That’s an aspirational song about refusing to accept things that aren’t quite right all around you,” umschreibt Neil Halstead die Thematik. “I don’t wanna feel all right / I don’t wanna be just okay / I want to go everywhere / I want to see everything”, lautet der Anspruch gleich in den ersten Zeilen des Lieds.

Passend dazu gönnt sich Palindrome Hunches auch ein bisschen Opulenz. Mit Produzent Nick Holton, Ben Smith (Geige), Drew Milloy (Kontrabass), Paul Whitty (Klavier), Tom Crook (Gitarre), Aimee Craddok (Backing Vocals) und Kevin Wells (Banjo) hat Neil Halstead immerhin fast eine halbe Schulklasse mitgebracht. Im sanften Opener Digging Shelters kommen die Mitstreiter nach und nach fast alle zum Einsatz, auch Tied To You wird vergleichsweise üppig im Stile von Nick Drakes Bryter Layter.

Ganz viel Trost steckt in den Liedern von Palindrome Hunches, jede Menge Persönlichkeit und noch mehr Schönheit. Manchmal haben die Lehrer eben doch Recht, so wie Mrs. Mackintosh, die den Schulchor an der Fir Tree Primary leitet. Denn ihr Motto lautet: „It’s a fact, singing is good for you!”

Neil Halstead spielt Digging Shelters. Ohne Glockenspiel.

httpv://www.youtube.com/watch?v=xijIj-N9fs4

Homepage von Neil Halstead.

 

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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