Hingehört: Tunng – “Turbines”

Niedlich, aber nicht zahnlos: Das ist der Charakter von "Turbines".
Niedlich, aber nicht zahnlos: Das ist der Charakter von “Turbines”.
Künstler Tunng
Album Turbines
Label Full Time Hobby
Erscheinungsjahr 2013
Bewertung

In der Folktronica-Schublade müssen sich Tunng – ob sie wollen oder nicht – eigentlich schon seit ihrer Gründung im Jahr 2003 halbwegs wohnlich einrichten. Mit ihrem fünften Album Turbines erreichen die Londoner allerdings einen ziemlich erstaunlichen Effekt im Hinblick auf dieses Genre: Niemals kann man sich hier sicher sein, ob das nun Folk ist, der elektronisch gebrochen wurde. Oder doch elektronische Musik, versteckt hinter dem warmen Klang echter Instrumente.

Die Band selbst hat eine eigene Interpretation dieser Frage. “The electronica is still there, as texture and synth lines rather than glitch and cut-up used to make actual rhythms”, sagt Mike Lindsay, der Tunng gegründet hat und nach wie vor die meisten Songs schreibt. “But really it’s our sci-fi folk-rock album. There are plenty of guitars and vocally it feels a lot richer, with me and Becky doing a lot of swapping of lines.”

Damit spricht er eine der größten Stärken von Turbines an: Das Zusammenspiel der Stimmen ist immer wieder zauberhaft. Mann und Frau, oft abwechselnd, manchmal gemeinsam, vor sanftem Hintergrund, niedlich, aber nicht zahnlos: Das hat schon bei Stars oder Belle & Sebastian blendend funktioniert und erweist sich auch hier als Erfolgsrezept. Trip Trap ist ein gutes Beispiel dafür, das zudem chaotische Rhythmen und ein bisschen Seventies-Prog-Rock-Pomp zu bieten hat.

Der zweite ganz entscheidende Pluspunkt für Turbines ist der erstaunliche Ideenreichtum, den Tunng hier an den Tag legen. Follow Follow beispielsweise klingt so clever, komplex und ausgetüftelt (aber nicht so asexuell) wie die Beta Band. Embers deutet an, was womöglich bei Simon & Garfunkel herausgekommen wäre, hätten die schon Loops und Synthesizer gehabt. Bloodlines beschränkt sich lange Zeit bloß auf Gitarren und Gesang, trotzdem ist von Anfang an klar, wie vielschichtig dieser Track ist.

Diese Kreativität hängt stark mit der Entstehungsweise von Turbines zusammen. Die Bandmitglieder, die mittlerweile über ganz Europa verstreut sind, trafen sich in Island (der aktuellen Wahlheimat von Mike Lindsay) und begannen mit dem, was Lindsay “a couple of actual jam sessions“ nennt. “The very first time we’d just picked up instruments and gone for it!” Es ging zunächst darum, Soundlandschaften und Atmosphären zu finden, erst viel später kamen dann Texte dazu, als die Arbeit in einem Studio in Dorset fortgesetzt wurde.

Trotz dieser zersplitterten Arbeitsweise ist das Album sehr rund und einheitlich geworden, wie Phil Winter (offizielle Berufsbezeichnung: “electronics wizzard”) bestätigt: “It’s more concise – not more accessible as such, because I don’t believe in that sort of category, but more direct, it’s just the essentials, it’s delivered straight. Because we had to make the most of the time we had together, it was a case of if something works then that’s it, keep it, don’t try and tweak it any more. We reviewed it at each stage, ticked off things we needed to do, then moved on.”

Das Ergebnis sind tolle Lieder wie der Beinahe-Boogie The Village, das schmissig auf eine sehr entspannte Weise wird. Der Opener Once beginnt mit vorsichtiger Gitarre, vorsichtigem Klavier und vorsichtigem Gesang, und am Ende ist das Lied doch ein Manifest über die die Kraft des Gesangs, den Trost der Musik und die Versöhnung mit der Welt, die man im Tanz finden kann. Das noch bessere So Far From Here könnte mit etwas mehr Politur ein Kracher im Stile von The Naked And Famous sein. Wenn Luftballons oder Seifenblasen singen könnten, dann kämen Lieder dabei heraus wie By This. Und am Schluss steht mit Heavy Rock Warning eine wundervolle Ballade, mit all der Einsamkeit eines Kosmonauten gesungen.

Bei so viel Klasse ist es am Ende natürlich irrelevant, welches Genre man für die Musik von Tunng wählt. Das meint übrigens auch Phil Winter: “The best thing about working with this band is that we can chuck all the ingredients in, give it a good shake, and see where it lands.”

Ein Album-Teaser für Turbines. Mit Turbinen.

httpv://www.youtube.com/watch?v=c–urcdLtGc

Homepage von Tunng.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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