Kettcar, Parkbühne, Leipzig

Drei Dinge, die nicht zusammen passen: Hugh Grant und Actionfilme, Donald Trump und politische Verantwortung, Kettcar und Leipzig. Letzteres galt zumindest 2001, als die Band zuletzt hier auf der Parkbühne spielte. Damals gestalteten sie das Vorprogramm für Bad Religion und wurden nach eigenen Angaben “wie ein dreibeiniger Hund” behandelt, und zwar von der Band, der Crew und dem Publikum. Natürlich haben Marcus Wiebusch, Erik Langer, Lars Wiebusch, Reimer Bustorff und Christian Hake seitdem auch etliche umjubelte Konzerte in Leipzig gespielt, etwa im vergangenen Jahr im Haus Auensee. Die Rückkehr auf die Parkbühne fühlt sich für die Hamburger dennoch an wie Traumabewältigung.

Das Paradies Kettcar Leipzig
Florian Sievers alias Das Paradies sprang spontan als Anheizer ein.

Das Wetter passt zwar bestens zu einem Open-Air-Konzert, die Vorzeichen stehen trotzdem nicht allzu gut. Problem 1: Der Support-Act ist ausgefallen. Kurzerhand springt Lokalmatador Florian Sievers alias Das Paradies ein. Er hat zwei Stunden vor seinem Auftritt einen Anruf mit der entsprechenden Anfrage bekommen, brach daraufhin den entspannten Spätnachmittag am See kurzerhand ab und gestaltet nun eine sehr stimmungsvolle halbe Stunde. Zu Beginn gesteht er, eine ähnlich Situation zu befürchten, wie sie Kettcar 2001 erlebt haben: Zumindest die Fans im Publikum, die Marcus Wiebusch noch zu seinen Punk-Zeiten bei …But Alive erlebt hätten, könnten ihn mit seinen zarten Liedern womöglich “in der Luft zerreißen”. Doch natürlich geschieht nichts dergleichen und der Spontan-Auftritt alleine mit Gitarre erweist sich als sehr schöne Einstimmung auf das Konzert.

Problem 2: Der Sound. Ich gehöre eigentlich nicht zur Fraktion der Leute, die sich an technischen Details ergötzen oder ihre eigene mangelnde Begeisterung für eine Show damit zu erklären versuchen, dass der Mitteltöner zu leise oder der Abstand zwischen den Delay-Towern nicht optimal war. Meine These ist eher: Ein guter Song ist ein guter Song und bleibt als solcher auch noch erkennbar, wenn er auf einem schrottigen Ghettoblaster gespielt wird oder eben in einer Open-Air-Umgebung, die durch Wind und Umgebungsgeräusche ohnehin erschwerte Bedingungen mit sich bringt. An diesem Abend gilt das aber nicht. Beim Sound wird auf Lautstärke gesetzt (die würde locker ausreichen, um eine doppelt so große Location zu beschallen) statt auf Erkennbarkeit der Details, und das ist insbesondere bei dieser Band eine falsche Entscheidung. Wer etwa als Kettcar-Novize hier verstehen möchte, worüber Marcus Wiebusch singt (und natürlich sind die Texte das Element, das für die meisten Fans den Zugang zu dieser Band eröffnet hat) wird damit oft scheitern, denn in vielen Passagen geht sein Gesang im Lärm unter.

Zum Glück sind die Fans in Leipzig ohnehin textsicher, auch der Anteil der Besucher, die mit dieser Band nur flüchtig vertraut sind, dürfte sich in engem Rahmen halten (zumal am selben Abend auch Käpt’n Peng in Leipzig spielt, der eine etwas jüngere, aber durchaus ähnliche Zielgruppe haben dürfte). Das ist nach wie vor der schönste Effekt bei einem Kettcar-Konzert: Das vertraute Gefühl, einen besonderen Abend zu erleben, mit Menschen, die dieses Gefühl teilen. Die Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen. Und auch den nötigen Anteil an Individualität inmitten all dieses dann doch etwas uniformen Gemeinschaftsgefühls integrieren zu können. Als Landungsbrücken raus den regulären Teil des Sets beschließt, singen die Menschen auch in der letzten Reihe mit, und zwar mit allem, was sie haben. Aber schon zuvor kann man an vielen Stellen des Publikums in Leipzig immer wieder Leute erkennen, die einen ganz besonderen Moment mit ihrem ganz persönlichen Lieblingslied erleben. Da hüpft einer zu Money Left To Burn, da knutschen zwei zu Balu, da liegen sich Kumpels bei Benzin und Kartoffelchips in den Armen, da holt jemand zu Im Taxi weinen doch noch einmal die Handykamera raus, um das Erlebnis festzuhalten und vielleicht später mit denen teilen zu können, die genauso gerne hier gewesen wären, aber zuhause auf die Kinder aufpassen müssen.

Kettcar Leipzig Konzertkritik
Kettcar sind in Leipzig “in Sabbellaune”, sagen sie selbst.

Spätestens bei Auf den billigen Plätzen gibt es keine Sandalen, Chuck’s, nackten Füße, Vans oder New-Balance-Sneaker (ja: ich habe mir das Schuhwerk des Publikums genau angeschaut) in der Parkbühne mehr, die still stehen. Ein Höhepunkt sind die Ansagen. Die Band sei heute “in Sabbellaune”, erkennt Marcus Wiebusch, und besonders amüsant sind dabei die Anekdoten, die Bassist Reimer Bustorff über die Anrufe seiner Mutter erzählt. Zu den schönsten Momenten gehört auch Trostbrücke Süd als erste Zugabe, an deren Ende die Fans in der Parkbühne den Chor bilden. Noch stärker ist aber die Wirkung, die Sommer 89 erzielt, das als drittes Stück dieses Konzerts erklingt. Kettcar, an diesem Abend komplett in schwarz gekleidet, hätten sich “viel Scheiß anhören müssen”, sagt Marcus Wiebusch über diesen Fluchthelfer-Song, weil sie sich als Westdeutsche über ein Ereignis ausließen, dass doch für Ostdeutsche ein viel gravierenderer Einschnitt in der eigenen Biographie war. Natürlich hat die Band keinerlei Lust, sich wegen dieser Kritik von ihrem Lied zu distanzieren, im Gegenteil: “Humanismus ist unverhandelbar”, sagt Wiebusch. Dann legen sich Kettcar unverkennbar besonders ins Zeug und sind am Ende dieser fünf Minuten offensichtlich selbst erneut mächtig bestärkt von der Gültigkeit ihres Statements.

“Das fühlt sich an wie der erste Höhepunkt, ab jetzt gibt es nur noch Zugaben”, sagt Marcus Wiebusch, als es am Ende von Sommer 89 – wie gesagt: nach nicht einmal einer Viertelstunde – den längsten und innigsten Applaus des Abends gibt. Hier in Leipzig, der Stadt der friedlichen Revolution, die aus der im Lied besungenen Fluchtbewegung ein neues Land machte, so viel Zustimmung zu diesem Song zu bekommen, darf man als kleinen Triumph betrachten, und so nehmen Kettcar das wohl auch wahr. 18 Jahre nach ihrer letzten Show an dieser Stelle darf man festhalten: Die Traumabewältigung ist ganz klar gelungen.

Die komplette Setlist von Kettcar in der Parkbühne:

1 Rettung

2 Money Left To Burn

3 Sommer 89

4 Benzin und Kartoffelchips

5 48 Stunden

6 Balu

7 Balkon gegenüber

8 Der Tag wird kommen

9 Den Revolver entsichern

10 Palo Alto

11 Im Taxi weinen

12 Ankunftshalle

13 Auf den billigen Plätzen

14 Ich danke der Aademy

15 Landungsbrücken raus

Zugabe 1 Trostbrücke Süd

Zugabe 2 Kein außen mehr

Zugabe 3 Deiche

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.