Orla Gartland Woman On The Internet Albumkritik

Orla Gartland – “Woman On The Internet”

Künstler*in Orla Gartland

Orla Gartland Woman On The Internet Review Kritik
Eine Karikatur ist die “Woman On The Internet”.
Album Woman On The Internet
Label New Friends Ltd
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung Foto oben: Fleet Union / Karina Barberis

“I don’t want you to go without me / … / I’m so tired of being left behind”, singt Orla Gartland in Left Behind, dem vorletzten Lied dieser Platte. Es ist eine Klavierballade, traurig und verletzlich. Man könnte meinen, die 25-Jährige, die in Dublin geboren wurde und in London lebt, singe schon wieder über Liebeskummer. Denn schon ihre 2020er EP Freckle Season hatte sie zuletzt dem schmerzhaften Ende einer Beziehung gewidmet. Die Befürchtung, sie habe nun auch auf ihrem Debütalbum nur dieses eine Thema, ist allerdings unbegründet. Mit Blick auf Freckle Season sagt Orla Gartland heute: “Es war gut, das hinter mir zu lassen. Denn ich schulde diesem Typen nicht ein ganzes Album.”

Solche selbstbewussten und reflektierten Aussagen sind typisch für Woman On The Internet und typisch für diese Künstlerin, die beim Weg zum ersten Longplayer bereits enorm viel Wille zur Autonomie gezeigt hat: Als 4-Jährige hat sie Geige gelernt (weil man das halt spielt in Irland), mit 11 dann Gitarre (weil sie Musik wie Avril Lavigne machen wollte). Mit 14 veröffentlichte sie erste eigene Lieder auf YouTube (weil sie noch zu jung war, abends irgendwo live aufzutreten und dort ihre Songs zu präsentieren), mit 17 folgte die erste Single Devil On My Shoulders, zwei Jahre später die EP Lonely People.

Statt in der Heimat zu studieren, entschloss sie sich, es auf eigene Faust in der Londoner Musikszene zu versuchen. Die Zeit bis zur 2019er EP Why Am I Like This und danach nutzte sie, um auch im Studio immer kompetenter und eigenständiger zu werden. “Eines Tages wurde mir klar, dass alle meine Lieblingskünstler viel Einfluss auf die Produktion ihrer Songs hatten. Also dachte ich bei Freckle Season: ‘Wie kann ich das zur vollsten, konzentriertesten Version von mir machen?’ Und die Antwort war einfach: Ich musste in jeden Teil des Prozesses einbezogen werden”, erzählt sie. “Je mehr ich zu einem Kontrollfreak wurde, desto lohnender war es und desto stolzer war ich auf die Musik. Ich war wie besessen von jedem Gitarrenton, jedem Schlagzeug-Sample, jedem Effekt auf meiner Stimme – ich habe jedes Detail der Songs ausgewählt, und es war ein großartiges Gefühl, dass ich mich bei den Aufnahmen nicht auf jemand anderen verlassen musste.”

Man hört diese Überzeugung und diese Fähigkeiten dem während des Lockdowns 2020 geschriebenen Album sehr deutlich an. Schon im Auftakt Things That I’ve Learned merkt man, wie viel Liebe zum Detail darin steckt, selbst in der ersten Minute, als Orla Gartland zunächst nur Sprechgesang und einen dezenten Beat einsetzt. In Pretending entsteht das Drama durch die Ausgangssituation (den Entschluss, sich und anderen nicht immer etwas vorzumachen) ebenso wie durchs Arrangement. Die Single More Like You zeigt eine weitere Stärke dieser elf Songs: Selten klingt das Ergebnis so warm, wenn der Sound so ausgetüftelt ist. Ein Höhepunkt ist Zombie!, das verspielte Gesangs-Harmonien mit viel Kraft im Rhythmus paart, sodass man an ein Update von Alanis Morissette denken kann. Gerade, weil sie am Ende die Ursprungsvariante dieser Komposition nur mit Gitarre und Gesang zeigt, wird die Produktion als so eindrucksvoll und angemessen erkennbar.

Die Einflüsse der Künstlerin (zu Beginn ihrer Karriere nannte sie etwa Laura Marling, Joni Mitchell, Kate Bush, Fiona Apple und Regina Spektor, unlängst eher Haim, Phoebe Bridgers und St. Vincent) haben klare Spuren in ihrer Ästhetik hinterlassen, noch offensichtlicher ist aber ihre Individualität. Sie kann plakativ und sogar aggressiv sein wie in Over Your Head oder zugleich nervös, unternehmungslustig und erhebend wie in You’re Not Special, Babe.

Zur im Albumtitel erwähnten Figur, die gleich in zwei Songs von Woman On The Internet erwähnt wird, sagt sie: “Sie ist eine Karikatur; eine namenlose, gesichtslose Figur, die mir sagt, ich solle mich besser ernähren oder ein bestimmtes Haarprodukt kaufen. Die Frau erscheint in diesen Liedern als jemand, den ich um Rat frage, wenn ich das Gefühl habe, dass niemand in meinem wirklichen Leben mir helfen kann, wenn ich wirklich verloren bin. Ein Großteil dieses Albums handelt davon, wie ich lerne, mir diese Verlorenheit wirklich zu eigen zu machen.”

Codependency ist ein perfektes Beispiel für die klugen, sensiblen Texte (“Ich würde mich freuen, wenn die Leute mich besser verstehen würden, aber es handelt auch nicht alles von mir. Ich fände es toll, wenn die Leute sich generell durch das Hören des Albums besser verstanden fühlen würden”), die sie aus diesem Ansatz entwickelt – und obendrein ein klasse Rocksong, cool, intelligent, leidenschaftlich und modern. Do You Mind bleibt ruhig und verströmt fast etwas Lounge-Gefühl, dabei hält es trotzdem die Spannung hoch. Der Album-Schlusspunkt Bloodline Difficult Things ist dezent funky, ziemlich heavy, erstaunlich innovativ und extrem abwechslungsreich.

“Als ich die ersten paar Songs für das Album geschrieben hatte, wurde mir klar, dass Woman On The Internet von dem Chaos meiner 20er Jahre handelt”, berichtet Orla Gartland. “Es ist ein anderes Chaos als in den späten Teenagerjahren, eine ganz andere Art von Angst. Ich fühle mich jetzt so viel gefestigter und selbstsicherer als mit 18 oder 19, aber ich bin immer noch nur die Hälfte der Person, die ich einmal sein werde – und das einzufangen wurde wirklich wichtig.”

Traurige Clowns gibt es im Clip zu You’re Not Special, Babe.

Website von Orla Gartland.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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