The 1975 – “A Brief Inquiry Into Online Relationships”

Künstler The 1975

The 1975 A Brief Inquiry Into Online Relationships Review Kritik
Ihr drittes Album haben The 1975 selbst produziert.
Album A Brief Inquiry Into Online Relationships
Label Polydor
Erscheinungsjahr 2018
Bewertung

„Das Album wird alles auf den Punkt bringen, es wird uns voll und ganz zeigen. Ich träume davon, dass es ein Erlebnis werden wird wie ein John-Hughes-Film. Ich will, dass es ein Album wird, das richtig groß und mächtig klingt und zugleich völlig eigenständig. Ein Statement, so wie Face Value von Phil Collins oder Graceland von Paul Simon.“ Diese Sätze hatte mir Matt Healy 2013 im Interview beim Melt-Festival gesagt. Das angesprochene Album war das Debüt von The 1975, das wenige Wochen später erscheinen sollte. Ich muss gestehen: Ich hätte damals nicht geglaubt, dass Matt Healy ein paar Jahre später einer der größten Rockstars der Welt sein würde.

Denn nichts weniger ist er heute. Das Debüt brachte der Band viel Anerkennung ein, das 2016er Album I Like It When You Sleep, For You Are So Beautiful Yet So Unaware Of It erreichte Platz 1 der Charts in den USA, Kanada, Australien, Neuseeland sowie im UK. Insgesamt mehr als 4,3 Millionen Alben hat das Quartett aus Manchester mittlerweile verkauft und Pitchfork empfiehlt allen Lesern mittlerweile: „Put your faith in The 1975.“

Dass ich das bei unserer Begegnung vor fünf Jahren nicht für möglich gehalten habe, liegt natürlich nicht daran, dass Matt Healy für solch einen Status der Ehrgeiz oder die Attitüde gefehlt hätten (ich ärgere mich mittlerweile ein bisschen, dass ich später am Abend das Angebot ausgeschlagen habe, mit der Band bis zum Morgen und ihrem Aufbruch zu ein paar US-Dates durchzufeiern). Es liegt vielmehr an der Sache mit dem “Rock” in “Rockstar”. Natürlich hat dieser Frontmann den nötigen Look, damals wie heute geprägt von Lederjacke, Sonnenbrille und Tattoos. Natürlich passt auch der Lifestyle (das Interview beim Melt hatte Sex als Thema). Aber ist das, was The 1975 nun auch auf ihrem dritten Album machen, wirklich Rockmusik?

A Brief Inquiry Into Online Relationships gibt eine sehr eindeutige Antwort darauf, und sie lautet: Dass wir Rock verinnerlicht haben, darauf kannst du deinen Arsch verwetten. Natürlich gibt es auch hier keine pompösen Schlagzeug- oder Gitarrensoli (oft gibt es sogar gar keine Gitarren). Stattdessen darf sich immer wieder der Auto-Tune-Effekt austoben, den man mittlerweile vor allem mit Wegwerf-Chartsmusik assoziiert. Aber ein Lied wie I Like America & America Likes Me zeigt den entscheidenden Unterschied: Noch so viel Auto-Tune kann nicht die Verzweiflung aus diesem Gesang herausfiltern.

Unverkennbar liefern The 1975 eine Authentizität, die für Rock steht. Genauso gehört zu ihrem Selbstverständnis eine Identifikation mit ihrer Musik, die aus genau diesem Genre kommt. Schlagzeuger George Daniel und Matthew Healy haben A Brief Inquiry Into Online Relationships selbst produziert (zuvor hatte die Band stets mit Produzent Mike Crossey zusammengearbeitet), rund um das Erscheinen der Platte gab es eine sehr aufwendige und gewitzte Promotion-Kampagne mit vielen versteckten Hinweisen, nicht zuletzt haben sie gleich fünf Singles innerhalb von weniger als fünf Monaten ausgekoppelt. All das zeigt: Hier ist kein Act am Werk, der für den schnellen Erfolg irgendeinen Trend imitiert, sondern eine Band, die sich und vor allem ihr Werk ernst nimmt.

Nie war das so deutlich wie auf dieser Platte. GQ hat A Brief Inquiry Into Online Relationships als „heroically ambitious“ bezeichnet, und schon die Eckdaten bestätigen das: Fast eine Stunde Spielzeit sind durchaus ungewöhnlich viel für ein Album anno 2018, zudem soll die Platte der erste Teil eines größeren Werks sein, die Fortsetzung mit dem Titel Notes On A Conditional Form ist für Mai 2019 angekündigt. Das musikalische Spektrum ist enorm. Sincerity Is Scary ist an der Oberfläche R&B, im Hintergrund angejazzt, dann gesellt sich auch noch ein Gospelchor hinzu und doch fügt sich alles sehr harmonisch zusammen. It’s Not Living (If It’s Not With You) flirtet heftig mit Eighties-Poprock im Stile von Bryan Adams oder Belinda Carlisle, TooTimeTooTimeTooTime, eine weitere Single, erweist sich als fast schamloser Pop mit Vorliebe für die Karibik.

Surrounded By Heads And Bodies setzt nur auf akustische Gitarre und Gesang und wird so der intimste Moment dieses Albums, auch die Swing-Atmosphäre in Mine ist erstaunlich erwachsen. Das hoch romantische I Couldn’t Be More in Love könnte fast eine Ballade von Lionel Richie sein. Wäre der Gesangseffekt in How To Draw / Petrichor nicht so aggressiv, könnte man den Track „ambient“ nennen, bevor ein umwerfender Beat einsetzt und schließlich etwas erklingt, das sehr schwer zu definieren ist, aber sehr geil. Der Gesang in Inside Your Mind erinnert an Dave Gahan, der Sound dazu ist reduziert mit einem Klavier im Zentrum, wodurch die Gitarre im Hintergrund, die Böses im Schilde zu führen scheint, noch effektvoller wirkt. Love It If We Made It bringt ein wichtiges Prinzip von The 1975 auf den Punkt: Das ist Rock’N’Roll in allem außer der Instrumentierung.

“Clever and profound, funny and light, serious and heartbreaking, painfully modern and classic-sounding all at the same time, A Brief Inquiry Into Online Relationships is a game-changing album, one that challenges The 1975’s peers – if, indeed, there are any – to raise their game”, hat Dan Stubbs im NME sehr treffend geschrieben. In der Tat ist es dieses Ausmaß an Entschlossenheit zu einem wirklich großen Wurf, zugleich das recht unzeitgemäße Bekenntnis zum Album-Format, das am dritten Album der Band am meisten begeistert. The Man Who Married A Robot / Love Theme ist das Stück, das dies am deutlichsten macht: Eine Computerstimme berichtet darin von einem einsamen Mann, der das Internet als besten Freund findet. Diesen Trick mit einem maschinellen Erzähler kennt man etwa von Radioheads Fitter Healthier auf dem legendären OK Computer, und genau in dieser Liga wollen The 1975 hier ganz eindeutig spielen. Das gelingt auch, weil der Trick in all seiner Tragik nach wie vor funktioniert: Die Hoffnung auf Anerkennung, Glück und ein besseres Leben wird ausgerechnet auf eine Technologie projiziert.

Genau wegen dieser Lust auf Ernsthaftigkeit funktioniert Be My Mistake so gut: Erstmals ist da ein so ursprüngliches Instrument wie die akustische Gitarre sehr prominent zu hören, das wirkt aber sofort wie selbstverständlich, denn man erkennt, dass sie auch bei den elektronischeren Tracks oft die Basis war, wenn nicht in der Komposition, so doch in der Mentalität. Ebenso glaubwürdig ist deshalb die Intimität dieses Lieds, gekrönt von der Zeile „You do make me hard / but she makes me weak“. Auch I Always Wanna Die (Sometimes) zeigt als Abschluss der Platte, was Matt Healy als Sänger (und Romantiker) alles drauf hat. Vielleicht am typischsten für die Klasse von The 1975 auf A Brief Inquiry Into Online Relationships ist die Single Give Yourself A Try: Das ist zupackend und glaubwürdig, eingängig und dabei doch edgy.

Äußert ambitioniert (und gelungen) ist auch das Video zu Sincerity Is Scary.

Website von The 1975.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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