Tocotronic, Haus Auensee, Leipzig

Pure Bildschärfe darf niemals siegen.
Pure Bildschärfe darf niemals siegen.

Tocotronic in irgendeiner Weise festzulegen, war schon immer schwierig. In den vergangenen Jahren ist es beinahe unmöglich geworden. Der Versuch, Tocotronic in irgendeine Schule, Szene oder Schublade zu stecken, erinnert immer mehr an das Experiment mit dem Pudding, dem Nagel und der Wand.

Unlängst habe ich das selbst erlebt, als ich Schlagzeuger Arne Zank im Interview nach prägenden Vorbildern für Tocotronic gefragt habe. „Ich versuche es zu vermeiden, einer bestimmten Band allzu sehr nachzueifern. Das fühlte sich immer seltsam an, wenn wir so klar zuzuordnen waren. Da kriegt man Beklemmung und versucht lieber, weitere Brüche zu erzeugen“, antwortete er.

Zusätzlich erschwert wird das Unterfangen einer Einordnung durch die Beschränktheit von Sprache. Die ist leider ein unvollkommenes Werkzeug, um die Gesamtheit der Welt auszudrücken (womöglich schreiben Tocotronic genau aus diesem Grund auch Lieder, keine Gedichte). Es kann bei diesem Konzert im Haus Auensee in Leipzig also nur ein Mittel geben, um dieser Band wirklich beizukommen: die unfehlbare Folgerichtigkeit der Mathematik. Knallharte Zahlen. Deshalb: ein Konzertbericht als Statistik.

Anzahl der von mir beobachteten Trainingsjackenträger im Publikum: 21. (Eine davon ist meine eigene). Früher war die Trainingsjacke, bevorzugt irgendein Second-Hand-Modell mit der Beflockung eines obskuren Provinzfußballvereins, so etwas wie die Ausgeh-Uniform im Tocotronic-Land. Der Trend scheint stark rückläufig zu sein, aber noch nicht ganz erledigt. Wer unbedingt mag, kann aus der Mode vielleicht einen Rückschluss auf die Musik ziehen: Heute ist bei Tocotronic viel mehr möglich. Gelegentlich schauen sie noch (eher stolz als nostalgisch) auf die alten Zeiten zurück. Aber die Idee, Zusammenhalt zu bieten und zugleich dennoch Konformität zu verweigern, bringen sie mittlerweile deutlich subtiler zum Ausdruck.

Menschen mit Cordhosen im Publikum: 3. Vielleicht der endgültige Beweis für die obige These. Cordhosen waren in den Anfangstagen von Tocotronic schwer en vogue bei den Fans (und auch bei der Band selbst, wie beispielsweise das Video zu Die Welt kann mich nicht mehr verstehen beweist). Im Haus Auensee sind sie an diesem Abend so gut wie ausgestorben.

Startzeit des Konzerts: 20:51 Uhr.

Anteil der peinlichen Ansagen von Sänger Dirk von Lowtzow an den Gesamtansagen von Sänger Dirk von Lowtzow: 95 Prozent. Wenn er beispielsweise „Freundinnen und Freunde, lasst uns die linke Hand heben und zur Faust ballen“ sagt, dann klingt das noch ein bisschen alberner als aus dem Mund von Peer Steinbrück.

Anzahl der Menschen, die irgendwann mitten in der Menge spontan vor Begeisterung hochspringen, obwohl sie eigentlich viel zu erwachsen dafür sein sollten: 3.

Anzahl der Menschen, die einen gefüllten Bierbecher Richtung Bühne werfen: 1.

Anzahl der Crowdsurfer: 1.

Ausschankverhältnis von Bier zu Wein: 90 zu 10. So schätzt zumindest Dani, die an einer der Theken für die Getränkeversorgung der Leipziger Fans zuständig ist. Was einigermaßen eindrucksvoll meine These widerlegt, Tocotronic seien mittlerweile eine Weintrinkerband („Alle vier Leute in der Band sind leidenschaftliche Biertrinker“, hatte auch schon Arne Zank im Interview betont). Passend dazu ist die Show im Haus Auensee übrigens das rockigste (und beste) Tocotronic-Konzert, das ich bisher gesehen habe.

Anzahl der Fred-Perry-Shirts im Publikum: unbekannt.

Anzahl der Fred-Perry-Shirts auf Bühne: 2.

Anteil der Menschen mit Abitur als höchstem Bildungsabschluss im Publikum: 99,2 Prozent. Die restlichen 0,8 Prozent gehen noch zur Schule und machen dann irgendwann später ihr Abitur.

Anzahl der Menschen, die noch nicht geboren waren, als Tocotronic gegründet wurden: 2. Man sieht keine Teenager bei diesem Konzert im Haus Auensee. Dafür habe ich aber zwei Kinder im Grundschulalter erblickt (siehe oben), und zwar ohne Gehörschutz. Da sag ich nur: Let There Be Rock.

Überseinstimmung des Geruchs auf dem Männerklo im Haus Auensee mit dem üblichen Festivalaroma: 89 Prozent.

Anteil der Zugabe-Rufer, als das reguläre Set mit Warm und grau vom aktuellen Album Wie wir leben wollen beendet wird: 40 Prozent.

Anteil der Leute, die klatschen, als es dann eine Zugabe gibt: 92 Prozent.

Anteil der Brillenträger im Publikum: 28 Prozent.

Anzahl der alten Kracher, die Tocotronic in Leipzig spielen: 4. Als „alte Kracher“ zählt nach DIN-Norm 93/21 (“Regulierungsvorlage zur Abgrenzung spektakulären Frühwerks im Schaffen von elektronisch verstärkter Jugendmusik von dem ganz lahmen Mist, der später kommt”) selbstverständlich alles bis einschließlich Es ist egal, aber. Aus dieser Frühphase stehen in der Setlist von Tocotronic an diesem Abend das göttliche Drüben aus dem Hügel, Meine Freundin und ihr Freund, das frenetisch gefeierte Freiburg (was nichts damit zu tun hat, dass sich der SC Freiburg zeitgleich zu diesem Konzert mit einem Heimsieg auf Platz 5 der Bundesligatabelle festsetzt) und Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen. Erfreulicherweise muss man festhalten: Viele der späteren Stücke wie 17, Macht es nicht selbst oder das noch immer wie eine Hymne begrüßte Aber hier leben, nein danke stehen den alten Krachern in punkto Kraft, Intensität und Bedeutung in nichts nach.

Menschen, die am Ende des Konzerts teilnahmslos am Rand sitzen am Ende: 7.

Gesamtgelungenheitsgrad (GGG) von Tocotronic in Leipzig: 87 Prozent.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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