Künstler*in | Johnny Cash |
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Album | American IV: The Man Comes Around | |
Label | American Recordings | |
Erscheinungsjahr | 2002 | |
Bewertung | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Foto oben: Flickr / Heinrich Klaffs / unter CC BY-NC-SA 2.0 |
Man konnte Zweifel haben, ob der Ansatz der American Recordings auch in einer vierten Auflage für Johnny Cash funktioniert. Erstens wäre eine Trilogie für seine Zusammenarbeit mit Produzent Rick Rubin ein vollkommen schlüssiges Konzept gewesen, schließlich ist dieses Format in der Kunst generell ebenso wie im eigenen Werk des „Man in Black“ bestens verankert (etwa in Form der Kompilation Love, God, Murder). Zweitens hätte die Fortsetzung für einen weiteren Teil das Risiko mit sich bringen können, kein so schlüssiges Songmaterial mehr für die zuvor etablierte Ästhetik mit extrem reduzierten Coverversionen, die weitgehend ohne Rhythmus, Harmonien oder sonstigen Zierrat auskommen, zu finden, oder dem Künstler – der damals als so etwas wie der Inbegriff von Authentizität gelten konnte – ein Jahr vor seinem Tod noch einen „Sellout“-Vorwurf einzubringen. Drittens war Cash in dieser Zeit schon sichtbar gezeichnet von seinem Leiden am Shy-Drager-Syndrom (einer seltenen Krankheit, deren Symptome denen von Parkinson ähneln), was in seinen Konzerten sichtbar wurde, und sich hier gelegentlich tatsächlich auch in der Stimme erkennen lässt.
Stattdessen wurde American IV: The Man Comes Around ein Triumph. Es sollte Songs hervorbringen, die zu den Highlights im mehr als 80 Alben umfassenden Oeuvre dieses Künstlers gehören. Es sollte die kommerziell mit Abstand erfolgreichste Platte dieser Reihe werden. Und es trug das Konzept, das hinter den American Recordings stand, über die Johnny-Cash-Kerngemeinde hinaus in den Mainstream. Wolfgang Doebeling hat dieses Konzept in seinem Nachruf auf den 1932 geborenen und in bitterer Armut aufgewachsenen Künstler so beschrieben: „Rick Rubins American Recordings führten Cash zurück zu seinen Wurzeln, in die vorindustrielle Zeit, nach Arkansas. (…) Johnny Cash kehrte heim, als Folk-Sänger, Erzähler, Mensch mit aufrechtem Gang.“
Das merkt man natürlich in erster Linie in den Songs mit eher traditionellem Ursprung. Sam Hall zeigt Sympathie auch für die, die unversöhnlich sind, Danny Boy bekommt Gospel- und Weihnachtslied-Anmutung – beide Lieder hatte Cash schon 1965 interpretiert. Streets Of Laredo erzählt von der Begegnung mit einem Sterbenden, vor allem aber erzählt es von der Tapferkeit und Klarheit, die nie größer sein kann als im Angesicht des Todes (Cash weiß das aus eigener Erfahrung: Als er 12 war, starb sein zwei Jahre älterer Bruder qualvoll, nachdem er in eine Säge geraten war). Der Abschluss We’ll Meet Again ist als Komposition fast so alt wie Cash selbst, er lässt hier (neben Jazz-Instrumentierung und einem etwas zu üppigen Chor am Ende) einen Hauch von schwarzem Humor hinein, weil das Wiedersehen natürlich bereits in Jenseits terminiert ist.
Der Titelsong erweist sich als bärenstarke neue Eigenkompositionen. Dieser Mann, der da zum Jüngsten Gericht abrechnet, das könnte er natürlich höchstselbst sein. Dazu gibt es zwei ältere Werke aus eigener Feder, die hier neu interpretiert werden: Give My Love To Rose ist eine erschütternd traurige Geschichte mit einfacher Moral. In Tear Stained Letter droht und fleht er zugleich (man könnte sagen: diese Kombination ist durchaus typisch für die gesamte Karriere dieses Sängers), das beinahe für Tanzbarkeit (!) sorgende Schlagzeug ist allerdings ein ziemlicher Schock.
First Time Ever I Saw Your Face, das unter anderem 1972 ein Hit für Roberta Flack war, vereint Romantik, Liebe und Hingabe – und zwar alles davon total. Nick Cave ist so mutig, sich in I’m So Lonesome I Could Cry in ein Duett mit Johnny Cash zu wagen, und damit zugleich in einen Wettbewerb in den Disziplinen Gravitas, Weltschmerz und Existenzialismus, den man eigentlich nicht gewinnen kann. Aber der Song gelingt – eben, weil die beiden Stimmen nicht konkurrieren, sondern sich ergänzen.
Wie sehr sich Johnny Cash hier als Sänger und Erzähler zuhause fühlt, zeigen aber auch seine Adaptionen neuerer Songs. So sehr wir Hurt heute als den Hit dieser Platte verinnerlicht haben, so klar muss man sich noch einmal machen: Da ist dieser irgendwie ja doch konservative, seriöse Typ namens Johnny Cash, und er singt das Lied von diesem abgefuckten Spinner namens Trent Reznor. Dieser Kontrast wird hier meisterhaft inszeniert und zugleich aufgelöst, mit diesen einsamen Klavierakkorden, von denen aus sich der Song erst zu Größe und dann auch doch zu Bedrohlichkeit aufschwingt und so die Vergänglichkeit als Thema noch stärker hervortreten lässt.
Seine Version von Personal Jesus zeigt, wie viel Americana von Anfang an in diesem Track von Depeche Mode steckte, von der Slidegitarre bis zum Thema. Auch in Stings I Hung My Head tritt nun der textliche Inhalt viel stärker hervor, es geht um Schuld, Pech, Leichtsinn und Sühne. In Desperado (The Eagles) passt die ganze Attitüde als weiser, mahnender Storyteller perfekt zu ihm. In Bridge Over Troubled Water sind ausnahmsweise Komposition und insbesondere Melodie stärker als seine Stimme, Rubin findet dafür ein tolles Arrangement, in dem etwa das Cello und die zweite Stimme für Tiefe und Spannung sorgen. Bei In My Life hingegen kann man nur staunen, dass ein 70 Jahre alter 100-Kilo-Mann so unschuldig und zärtlich klingen kann.
Was der Rolling Stone über die erste Auflage der American Recordings geschrieben hatte, lässt sich unzweifelhaft auch bei #4 erkennen: „Rick Rubin machte sich auf, die harte und dunkle Seite des Johnny Cash in Stein zu meißeln.“ Auch The Man Comes Around ist wieder ein Album „von monolithischer Dichte, von alttestamentarischer Unnachgiebigkeit und setzt allein auf diese rissige, aber auratische, autorative Stimme, die noch immer klingt wie Granit und nach wie vor imstande ist, den Nachgeborenen heilige Furcht einzuflößen“.