Marilyn Manson Konzertkritik Haus Auensee

Marilyn Manson – „Antichrist Superstar“

Künstler*in Marilyn Manson

Marilyn Manson Antichrist Superstar Review Kritik
Marilyn Mansons „Antichrist Superstar“ war der endgültige Sargnagel für die Grunge-Ära im US-Rock.
Album Antichrist Superstar
Label Interscope
Erscheinungsjahr 1996
Bewertung Foto oben: Universal Music / Agatha Alexander

Es braucht nicht viel, um konservative, christliche Amerikaner auf die Palme zu bringen. Es reicht, wenn man flucht, am Sonntag nicht in die Kirche geht oder Sex vor der Ehe für eine gute Idee hält. Das Ausmaß an (natürlich kalkulierter) Provokation, das sie 1996 rund um die Veröffentlichung dieser Platte erdulden mussten, war für diese frommen Menschen somit wahrscheinlich kaum zu ertragen. Da ist dieser Mann, der den Vornamen einer Frau und den Nachnamen eines Serienmörders trägt (was auch für alle seine Bandmitglieder gilt). Das ist der Albumtitel, der kaum blasphemischer sein könnte. Da sind Anspielungen auf Nazi- und Porno-Ästhetik, da sind Texte, die Wörter wie „pussy“ und „fuck“ enthalten. Und da ist auch noch die Storyline dieser aus drei Kapiteln („The Heirophant“, „Inauguration Of The Worm“, „Disintegrator Rising“) bestehenden Platte, die nichts anderes besagt als: Die Welt ist so scheiße und die Menschen sind so dumm, dass sie nichts anderes als die Zerstörung verdienen. „Your world is an ashtray“ oder „When you get to heaven / you will wish you’re in hell“, lauten typische Botschaften.

Folgerichtig kam es auch zu erheblichen Protesten. Wenn Marilyn Manson ein Konzert spielte, standen vor der Halle meist Demonstrierende, die deutlich machten, dass sie solche Botschaften nicht in ihrer Stadt haben wollten. Manchen Plakaten und manchen Interview-Statements konnte man entnehmen, dass sie nicht nur vermuteten, diese Band nehme Drogen in aller Öffentlichkeit, sondern praktiziere hinter der Bühne auch satanische Rituale mit Tier- und Menschenopfern. Das „Committee on Homeland Security and Governmental Affairs“ berief sogar eine Anhörung im US-Kongress ein, um der Frage auf den Grund zu gehen, wie gefährlich Marilyn Manson für die Jugend des Landes ist.

Natürlich konnte es keine bessere Werbung für das zweite Album von Marilyn Manson geben als all diese moralische Empörung (die wahrscheinlich noch größer ausgefallen wäre, hätten die Menschen geahnt, wie groß das Ausmaß an Drogenkonsum, Zerstörungswut und schlechter Laune während der Aufnahmen für Antichrist Superstar tatsächlich war). Mit dem Image als vermeintlicher Staatsfeind Nr. 1 hatte die Band schon zuvor gerne gespielt. Hier schafft sie es, eine künstlerische Entsprechung dafür zu finden. Es geht nicht nur um hohle Provokation, um das Anzetteln eines beliebigen Skandals, der sich dann fürs Marketing ausschlachten lässt. Vielmehr werden hier der eigene Hass auf die Welt und die Bigotterie all derer, die solchen Hass nicht erlauben wollen, in für damalige Verhältnisse hoch moderne Rocksongs gegossen. Das ist plakativ und anstrengend, es ist aber auch klug und innovativ.

Irresponsible Hate Anthem eröffnet das Album mit einem fiesen Riff, einer noch fieseren Stimme und sehr viel Tempo. Natürlich wurden da im Studio reichlich Details und Gimmicks eingebaut (Trent Reznor ist einer der Produzenten, er hatte schon das Debüt betreut und Marilyn Manson zuvor für sein Label unter Vertrag genommen), aber im Rückblick erkennt man: Eigentlich ist das der gute alte Punk, bis hin zur Zeile „I wasn’t born with enough middle fingers“, vielleicht mit ein bisschen Batteriesäure garniert. The Beautiful People mit seinem alles dominierenden Schlagzeug kann man zielsicher im Industrial einordnen, und zwar in einer klanglich mutigen Ausprägung dieses Genres. Little Horn ist letztlich Hard Rock, bloß ohne Hedonismus und Hoffnung. 1996 hat viel Druck und Überzeugung, erstaunlicherweise sorgt dabei in erster Linie der Bass für Härte und Prägnanz.

Dried Up, Tied And Dead To The World könnte im Kern auch ein Stück von Beck oder Garbage sein, das allerdings ein bisschen zu lange in Essig gelagert wurde. Bei Tourniquet kann man an die Smashing Pumpkins denken, in der Phrasierung sogar an frühen Alice Cooper. Überhaupt ist diese Stimme der ultimative Erfolgsfaktor für Antichrist Superstar, denn die Rolle als Demagoge, der mächtig schlecht gelaunt ist und die Welt zerstören will, nimmt man Marilyn Manson bei diesen Vocals jederzeit ab: Aus Mister Superstar lässt er in jeder Sekunde immer mehr echten Weltekel tropfen, auch Angel With The Scabbed Wings erweist sich als ein wunderbares Auskotzen mit mehr als genug klugen Details, um diesen Gestus nicht langweilig oder eindimensional wirken zu lassen. Kinderfeld nimmt Tempo raus, aber keineswegs Bedrohlichkeit, die Mitte von The Reflecting God zeigt, wie famos der Gesang von Marilyn Manson eskalieren kann. Minute Of Decay beweist, dass er sogar Balladen beherrscht (eben, weil er Atmosphäre und Dynamik beherrscht). Ein Vers wie „I’m on my way down / I’d like to take you with me“, ist darin viel teuflischer als alles, was Him jemals getextet haben.

Auch, wenn man diese Platte gerne als Rock-Oper verstehen darf (und sie sich im Nachhinein auch noch als Auftakt einer Trilogie erwiesen hat), wird trotzdem an einigen Stellen deutlich (etwa in Man That You Fear), dass womöglich eine schlichte Schrammelgitarre oft der Nukleus dieser Songs war. Dass diese Grundlage in der Regel so gründlich kaschiert wird, hat zwei Ursachen: Erstens ist es oft all das im Studio ergänzte Sound-Brimborium, das diese Tracks auf ein anderes Niveau hebt und auch dafür sorgt, dass sie so fies, giftig und ätzend klingen. Zweitens ist Antichrist Superstar (auch wegen seines kulturellen Impacts und des kommerziellen Erfolgs) vielleicht so etwas wie das endgültige Ende der Grunge-Ära im US-Rock: Es geht hier nicht mehr um Introspektion und Aufrichtigkeit, sondern um Spektakel und Nihilismus.

Das führt hier manchmal auch zu Momenten, die affektiert oder prahlerisch wirken. Im Titeltrack Antichrist Superstar hat sich jemand mit den Effektgeräten im Studio aber mal so richtig ausgetobt, und das schadet dem Song (und der angestrebten Wirkung) eher, als dass es nützt. Auch Cryptorchid und Deformography versuchen sich in vielen Modernismen, haben aber wenig Fokus und auch nicht allzu viel Substanz. Wormboy hat mehr Theatralik und Schauspielerei zu bieten als Subversion und Existenzialismus. Und dass nach 16 Liedern dann lauter Blank Tracks gelistet sind, die jeweils 4 Sekunden lang sind, um am Ende auf 99 Stücke zu kommen (wovon sich der letzte wiederum als ein aus Stimm-Samples bestehender Quasi-Hidden-Track entpuppt), ist natürlich auch ein bisschen albern.

Was sich 25 Jahre nach der ursprünglichen Veröffentlichung aber klar festhalten lässt, hat nichts mit solchen Sperenzchen und auch nichts mit den vermeintlichen Skandalen rund um diese Musik zu tun. Stattdessen lässt sich schlicht und ergreifend attestieren: Antichrist Superstar von Marilyn Manson ist eine richtig gute Rockplatte.

Satan + Make-Up + Drittes Reich: das Video zu Antichrist Superstar.

Website von Marilyn Manson.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.