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Die zehn größten Verlierer der WM-Vorrunde

48 Spiele sind absolviert bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien. Die Achtelfinals stehen fest, die deutschen Angstgegner Spanien UND Italien sind raus. England brauchte diesmal nicht mal ein Elfmeterschießen, um die Koffer zu packen. Die wirklich großen Verlierer der WM in Brasilien sind bisher aber andere. Hier meine Top 10.

Doch noch fertig geworden: Campo Bahia, das offizielle Hotel der DFB-Elf. Foto: obs/Campo Bahia/campobahia.com
Doch noch fertig geworden: Campo Bahia, das offizielle Hotel der DFB-Elf. Foto: obs/Campo Bahia/campobahia.com

Platz 10: Die Hater. Es wurde viel gesprochen und noch mehr geschrieben vor der WM in Brasilien über Verzug beim Bau der Stadien, über ein kurz vor Start des Turniers noch unfertiges deutsches WM-Quartier und natürlich über reichlich Proteste im Land des Gastgebers. Wieder einmal gab es hierzulande Unkenrufe, die WM drohe im Chaos zu versinken (man kann darin durchaus kulturellen Chauvinismus erkennen, der Ländern außerhalb Europas offensichtlich die Organisation eines solchen Großereignisses nicht zutraut), bestimmt hatte auch wieder irgendjemand die Idee, das Turnier kurzfristig nach Deutschland zu verlegen. Frei nach dem Motto: Wir wissen schließlich, wie man das richtig macht. Mit Anpfiff des ersten Spiels waren die Hater aber zum Schweigen verurteilt: Alles ist fertig, alles funktioniert, sogar sintflutartiger Regen wie gestern in Recife kann den reibungslosen Ablauf nicht stören. Brasilien zeigt sich der WM mehr als gewachsen. Und die (selbstverständlich berechtigten) Demonstrationen gegen die enormen Kosten des Turniers und die Subventionierung der Fifa durch den Steuerzahler in einem Land, das wirklich sinnvollere Investitionen gebrauchen könnte, sind zumindest aus der deutschen Berichterstattung verschwunden. „Die wollen die WM genießen“, hieß eine passende Schlagzeile dazu bei tagesschau.de. Auch da also: Wer unbedingt meckern will über dieses Fußballfest, muss verdammt lange suchen.

Platz 9: Nike. Satte zehn Mannschaften hatte die US-Sportartikelfirma zu Beginn der WM im Rennen. Die Hälfte davon hat sich bereits in der Vorrunde verabschiedet, darunter Hoffnungsträger wie England und Portugal. Auch für Puma lief die Vorrunde nicht gut: Von acht Teams sind noch vier übrig, unter anderem Italien musste überraschend die Segel streichen. Am besten lief es von den großen Sportartikelherstellern in der Vorrunde für Adidas: Nur drei der acht Teams, die mit den drei Streifen gestartet waren, mussten bisher die Koffer packen.

Platz 8: Bastian Schweinsteiger. Kein WM-Spiel über 90 Minuten, keine bleibenden Eindrücke – der Mann, der einst als Kreativspieler missverstanden und dann seltsamerweise als Stratege gefeiert wurde, ist bisher kein Faktor im deutschen Spiel und erst recht keine prägende Figur der WM 2014. Die deutschen Medien werden zwar nicht müde, ihn als „Dirigenten“ zu feiern, wenn er bloß gewöhnliche Querpässe spielt und als „belebendes Element“ zu loben, wenn er bei jedem zweiten Offensivversuch einen Ballverlust produziert. Aber nicht nur das Auftrumpfen von Toni Kroos und das Festhalten von Bundestrainer Joachim Löw an Philipp Lahm als defensivem Mittelfeldspieler zeigt, dass Schweinsteiger im Nationalteam längst verzichtbar geworden ist.

Platz 7: Die Herzchirurgen in Mexiko. Miguel Herrera, der Nationaltrainer Mexikos, gehört zu den bisher spektakulärsten Figuren der WM 2014. Nicht nur Jürgen Klopp hat sicher seine Freude daran, mitzuerleben, wie Herrera an der Seitenlinie mitgeht. Er ist so etwas wie der lebende Gegenentwurf zu Walerij Lobanowski, ein Derwisch und Rumpelstilzchen in der Coaching-Zone. Man muss allerdings befürchten, dass die Ärzteschaft in seinem Heimatland bald vor großen Herausforderungen stehen wird, denn gesund kann so viel Leidenschaft auf Dauer nicht sein, und der Mann geht immerhin auch stramm auf die 50 zu. Sollte das Team auch noch das Achtelfinale gegen die Niederlande überstehen, besteht wahrscheinlich sogar Ansteckungsgefahr für den Rest seiner Landsleute.

Platz 6: Die Fifa. Nein, damit meine ich nicht die Neuerungen im Reglement wie die Torkamera und das Freistoßspray (beide haben sich in der Vorrunde durchaus bewährt). Auch nicht die teilweise erschütternden Fehlleistungen der Schiedsrichter, die der Weltverband für das Turnier einsetzt. Und auch nicht die amüsante Tatsache, dass erst ein brasilianisches Arbeitsgericht kommen musste, um die Gesundheit der Spieler angesichts der enormen Hitze per juristisch angeordneter Trinkpause wirklich verlässlich zu schützen (was bei allen Beteiligten sicher die Vorfreude auf Katar 2022 steigert. NICHT). Sondern die allgemein bekannte Tatsache, dass der Fußball-Weltverband im öffentlichen Ansehen kaum noch tiefer sinken kann – und dass zumindest einige Medien die Aufmerksamkeit rund um das Weltturnier genutzt haben, um darauf hinzuweisen.

Platz 5: Iker Casillas. Der fünfmalige Welttorhüter ist die Symbolfigur des spanischen Absturzes. Sein Team hatte drei große Turniere in Folge gewonnen und war als Titelverteidiger und Mitfavorit nach Brasilien gekommen, schon nach zwei Vorrundenspielen war die goldene spanische Ära dann vorbei. Casillas hatte daran mit Patzern und Unsicherheiten (Kicker-Notendurchschnitt: 5,0) gehörigen Anteil. Beim einzigen Sieg der Spanier im dritten Spiel der Vorrunde saß er auf der Bank – der 33-Jährige könnte damit auch zur Symbolfigur für den personellen Umbruch der Spanier werden.

Platz 4: Afrika. Es ist viel geschrieben worden über die europäischen Teams, die sich in der Vorrunde en gros aus Brasilien verabschiedet haben. Dass mit Italien, England und Portugal drei Länder ausgeschieden sind, die im Vereinsfußball zu den Großen zielen, ist in der Tat überraschend, aber teilweise auch dem Modus geschuldet (siehe unten). Dass der Nabel der Fußballwelt vielleicht doch nicht so nahe an München, Madrid oder Manchester liegt, wie man hierzulande gerne denkt, ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der bisherigen Spiele in Brasilien. Aber immerhin 6 von 13 europäischen Mannschaften (46 Prozent) sind noch im Wettbewerb. Deutlich schlechter schneidet Asien ab, selbst wenn man Australien mitzählt, das zumindest in der Logik der Fifa dazuzurechnen wäre: Alle vier Teams sind in der Vorrunde gescheitert. Auch die afrikanischen Mannschaften, von denen einige vor dem Start der WM wieder einmal den Status als Geheimfavoriten oder potenzielle Senkrechtstarter zugeschrieben bekommen hatten, landeten in Brasilien auf dem Boden der Tatsachen: Nur noch 2 von 5 Teams sind dabei, die Quote ist mit 40 Prozent also ebenfalls schlechter als die europäische. Und mit Deutschland (gegen Algerien) und Frankreich (gegen Nigeria) haben die beiden verbliebenen Vertreter nicht gerade leichte Aufgaben vor der Brust.

Für Fußballbegeisterung auch außerhalb des Pkw bot die WM 2014 reichlich Anlass. Foto: obs/CosmosDirekt/Thinkstock
Für Fußballbegeisterung auch außerhalb des Pkw bot die WM 2014 reichlich Anlass. Foto: obs/CosmosDirekt/Thinkstock

Platz 3: Die Taktik. Das ist durchaus eine erfreuliche Nachricht. Statt Rasenschach, Tiki Taka und Ballbesitzfußball regierte bei der WM 2014 bisher die Leidenschaft auf dem Platz (und im Fall von Miguel Herrera auch daneben, siehe oben). Etliche Spiele boten über weite Strecken einen offenen Schlagabtausch, viele späte Treffer und Jokertore waren zusätzliches Salz in der Suppe. Pro Spiel werden im Durchschnitt 2,83 Tore erzielt. Wenn dieser Wert auch beim Turnierende noch Bestand hat, liegt er deutlich über der Quote von Südafrika 2010 (2,45), Deutschland 2006 (2,56) und Südkorea/Japan 2002 (2,71). So kann es weiter gehen.

Platz 2: Cristiano Ronaldo. Ein Tor für Portugal im unbedeutenden letzten Spiel gegen Ghana mag für „CR7“ ein kleiner Trost sein. Aber insgesamt wird die WM 2014 für Cristiano Ronaldo (zur Erinnerung: er hat sein Land mit vier Toren in den beiden Play-Off-Spielen gegen Schweden überhaupt erst nach Brasilien geschossen) in dunkler Erinnerung bleiben. Gegen Deutschland war er abgemeldet, gegen die USA blass. Besonders schwer wiegt das, weil andere Superstars wie Messi, Neymar oder Benzema (und meinetwegen auch: Thomas Müller) in Brasilien groß aufspielen. Dass „CR7“ der amtierende Weltfußballer ist, wirkt da wie ein Witz.

Platz 1: Der Modus. Der größte Verlierer des Turniers ist der Modus. Egal, welche Logik man unterstellt – dass im zweiten Vorrundenspiel schon das Finale der letzten WM über die Bühne geht (Spanien – Niederlande) und dass drei (von insgesamt überhaupt nur sieben existierenden) ehemaligen Weltmeistern in einer Gruppe aufeinander treffen, ist ein Unding. Natürlich haben England, Spanien und Italien ihr Ausscheiden letztlich sportlich selbst verschuldet, aber gegen denkbar starke Gegner. Dass die absurde Setzliste der Fifa eben nicht die Stärke der jeweiligen Mannschaften widerspiegelt, zeigt ein Blick auf das Abschneiden in der Vorrunde: Von den acht Teams, die als Gruppenkopf gesetzt waren, haben nur fünf ihre Gruppe gewonnen, trotz eines vermeintlichen Vorteils durch die Auslosung. Von den zehn besten Mannschaften der Welt (laut aktueller Fifa-Weltrangliste) sind schon nach der Vorrunde nur noch sechs im Turnier. All das zeigt, wie aberwitzig der Modus ist. Natürlich gehört zu einer WM auch, dass alle Kontinente vertreten sind, dass sich Honduras mit Ecuador und Nigeria mit Bosnien-Herzegowina messen soll und dass es Costa Rica ins Achtelfinale schaffen kann. Aber einem Turnier, bei dem wirklich die sportlich besten Mannschaften aufeinandertreffen, und einer möglichst hochklassigen K.o.-Runde in Brasilien steht dieser Modus eindeutig im Weg.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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