Erasure – “The Neon”

Künstler Erasure

Erasure The Neon Review Kritik
In Atlanta und London ist “The Neon” entstanden.
Album The Neon
Label Mute
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

Erasure lieben, was sie tun. So schlicht diese Aussage klingt, so sehr ist sie der Schlüssel dazu, dass auch das 18. Studioalbum von Andy Bell und Vince Clark funktioniert. The Neon enthält zehn Songs, die nicht mehr sonderlich aufregend klingen, aber Fans sehr glücklich machen dürften und vor allem zeigen, wie erfüllend das gemeinsame Musizieren für diese beiden Künstler selbst nach wie vor ist. „Es ist immer wunderbar, Andy zu treffen, ich freue mich jedes Mal darauf. Uns wird miteinander niemals langweilig“, sagt Vince Clark zu dieser besonderen Beziehung.

Dass Erasure noch/wieder so gerne Erasure sind, liegt auch daran, dass beide Musiker zuletzt andere kreative Ausflüge unternommen haben. „Unsere Musik reflektiert immer, wie es uns geht. Andy ging es zuletzt sehr gut, mir ebenso. Das kann man hören“, sagt Vince Clark dazu. Er hat unlängst mit Paul Hartnoll (Orbital) gearbeitet, Remixes für Miss Kittin, Fujiya and Miyagi oder James Yorkston angefertigt sowie die Radiosendung The Synthesizer Show gestartet. Andy Bell genießt das Eheleben mit seinem Mann in Miami und London, er hat Theaterproduktionen initiiert und Soundtracks für die Torsten-Theaterstücke von Barney Ashton-Bullock gemacht.

Die Erfahrungen in diesen Nebenprojekten haben ganz offensichtlich die Lust darauf geschärft, sich wieder dem Kerngeschäft zu widmen. Nach dem explizit politischen Vorgänger World Be Gone (2017) sollte es diesmal wieder optimistisch werden, gerne auch hedonistisch. Schon die Single Hey Now (Think I Got A Feeling) als Auftakt von The Neon zeigt das. Der Song ist so plakativ, wie nur Pop sein kann, die Ästhetik würde auch zu Roxette in ihrer Spätphase passen. Andy Bell hat hörbar Spaß am Gesang, der Text handelt von der Freude am Verliebtheitsein. „Es ging darum, meine Liebe – hoffentlich: unsere Liebe – zu großartigem Pop zu erneuern. Ich will, dass die heutigen Kids diese Songs hören. Ich will das Gefühl bestärken, dass jedermann Pop machen kann“, sagt Andy Bell.

Das gelingt ihnen anno 2020 leider nicht immer. Ein Stück wie Diamond Lies soll wohl Club-Tauglichkeit beweisen, klingt aber gewöhnlich. Der Album-Abschluss Kid You’re Not Alone scheitert mit seinem Versuch von Tiefgründigkeit. Auch das dramatische Tower Of Love ist besonders ambitioniert, wird aber affektiert und prätentiös. In vielen Momenten überzeugt The Neon aber – weil es nicht nur aktuell sein will und die Zukunft im Blick hat, sondern auch die Vergangenheit. Das gilt für den Sound, der auf viel altes Equipment setzt („Wenn man verschiedene analoge Synthesizer kombiniert, kann daraus echte Schönheit entstehen, sie haben einen wunderbaren Glanz“, sagt Vince Clark), es gilt aber auch für das Bewusstsein, Teil einer größeren Tradition zu sein. „Mir ist bewusst, wie viel Glück ich hatte, in den frühen 1960ern geboren zu sein. Dadurch habe ich sehr viel Pop-Geschichte miterleben können. Ich kann mich sehr glücklich schätzen, dass meine Teen- und Twen-Jahre in die Achtziger fielen”, sagt Andy Bell. „Heutzutage wird Pop von ganzen Komitees produziert. Es gibt nicht mehr so viele Leute, die alles selbst machen. Aber nur so kann man eine bestimmte Essenz und einen bestimmten Geist transportieren, der Pop ausmacht.“

The Neon strotzt vor Entschlossenheit, diesen Geist zu beschwören, befeuert von der Kraft der Liebe. Nerves Of Steel ist ein gutes Beispiel dafür, das Andy seinem Ehemann widmet. “Ich habe das Gefühl, dass wir zusammen alles erreichen können. Es ist, als seien wir zwei kleine Prinzen, die zusammen auf diesem Planeten stehen, nur er und ich, niemand sonst.“ Insbesondere sein Gesang sorgt in diesem Song dafür, dass die Botschaft glaubhaft und nicht banal wird. In Fallen Angel wird Liebe beschrieben „just like a second nature“, in No Point In Tripping werden im Überschwang der Gefühle sogar die Naturgesetze außer Kraft gesetzt: „Where is gravity now?“

Auch Shot A Satellite hat Authentizität und sogar Feuer im Refrain, auch hier vor allem dank der Strahlkraft des Gesangs von Andy Bell, der in einem alten Studio in Atlanta aufgenommen wurde, während Vince Clark seine Sounds in London produziert hat, wo die Platte auch abgemischt wurde. Mit dem Konzept von The Neon haben Erasure einen sehr überzeugenden Rahmen gefunden. „The Neon ist ein Ort, aber kein bestimmter Ort“, sagt Andy Bell. „Es ist ein Ort, der in deiner Fantasie lebt, und den wir – du und ich – in die Realität holen können. Es kann ein Nachtclub sein, ein Shop, eine Stadt, ein Café, ein Land, ein Schlafzimmer, ein Restaurant, irgendein Ort. Es ist ein Ort der Möglichkeiten in einem warmen, leuchtenden Licht. Und diese Musik bringt dich dorthin.“ Die visuelle Entsprechung findet sich in einem aufklappbaren Fotobuch, das der CD beiliegt. Viele der darin enthaltenen Motive wurden in Gods Own Junkyard in London aufgenommen, wo es eine riesige Sammlung alter Neonröhren gibt. “Das fühlt sich an, als wäre man in einem Virtual-Reality-Computerspiel. Wie eine andere Welt. Diese Stimmung soll auch unser Album transportieren“, sagt Andy Bell.

Im Fall des reduzierten New Horizons funktioniert das als erwachsene Ballade, die auch von Elton John vorstellbar wäre. Das eingängige und tanzbare Careful What I Try to Do feiert erneut die Macht des Verliebtseins: „I’m a cynic, yeah / but I would die for you.“ In Summe wird The Neon somit ein Vierteljahrhundert nach der Blütezeit des Duos tatsächlich so etwas wie die Quintessenz seines Sounds. Auch Andy Bell erkennt diesen Charakter: „Rosie O’ Donnell hat einmal gesagt, dass Konzerte von Erasure wie nicht-religiöse Gottesdienste sind. Sie fühlen sich wirklich spirituell an. Das Album sollte von diesem Gefühl handeln, von einer Verbindung zur Vergangenheit und zur Zukunft.“

Im Video zu Hey Now (I Think I’ve Got A Feeling) wird derText natürlich zur Neon-Reklame.

Website von Erasure.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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