Tim Neuhaus – “Pose I + II”

Künstler Tim Neuhaus

Pose I + II Tim Neuhaus Kritik Rezension
Fast alles auf “Pose I + II” hat Tim Neuhaus selbst eingespielt.
Album Pose I + II
Label Grand Hotel van Cleef
Erscheinungsjahr 2017
Bewertung

Starting To Lose It heißt der dritte Song auf dem dritten Album von Tim Neuhaus. Das Lied ist etwas melancholisch und könnte mit seinem Titel andeuten, dass der Multiinstrumentalist aus Hagen in einer Schaffenskrise steckt. Vielleicht hat er, nach vielen Stunden des gemeinsamen Musizierens beispielsweise mit Clueso und einer Tour als Teil der Liveband von Boy oder Hundreds, seinen Fokus als Songwriter verloren. Vielleicht heißt die heute erscheinende Platte auch deshalb Pose I + II, weil er ahnt, dass hier nichts Echtes und Unmittelbares mehr drinsteckt.

Nichts könnte weniger zutreffend sein. Tim Neuhaus, der fast jedes Instrument auf diesem Album selbst eingespielt hat, zeigt sich stattdessen enorm vielseitig und äußerst inspiriert. Pose I zeigt dabei eher seine Pop-Affinität, Pose II seine Lust auf Außergewöhnliches. Dennoch ist das Album ein sehr stimmiges Ganzes geworden, niemals bahnbrechend, aber stets extrem geschmackssicher.

“Ich habe die Songs so geschrieben und aufgenommen, wie ich es mit 16 schon gemacht habe. Nicht zuviel nachdenken, wenige Effekte nutzen, nicht vor Experimenten zurückschrecken. Ich wollte diese 4-Spur-Ästhetik meiner ersten Aufnahmen aus meinen Jugendtagen wieder aufleben lassen”, sagt der 38-Jährige. “Ich bin damals fürs Musikmachen nach Berlin gekommen und habe mich selbst dabei hier und da mal in dieser großen Stadt verloren. Ich habe für die neuen Songs wieder zu mir zurückgefunden, und konnte dem Teenager-Tim jetzt das schöne Abschiedsgeschenk machen, auf das er solange warten musste”, lautet sein sehr schönes Fazit des Albums.

Die Single The Music That You Are eröffnet die Platte, das Lied war so etwas wie ein Erweckungserlebnis für Neuhaus und begründete die Herangehensweise, die er schließlich für Pose I + II wählte. “Ich habe vor zwei Jahren ein Lied geschrieben, und dabei innerlich so gebrannt wie damals mit 16. Das Gefühl hatte ich in dieser Art lange nicht mehr. Ich fühlte mich dabei stark wie nie, gleichzeitig ruhig und entspannt. Ich war völlig überzeugt, etwas Wichtiges, Richtiges und Gutes bewegt zu haben mit diesem Song. Es gibt eine Strahlkraft in uns, eine Art Klang, die wir leider aus unterschiedlichen Gründen zu oft unterdrücken. Wir lassen sie nicht zu, weil wir anderen nicht zu viel werden wollen, oder wir sogar nicht mehr an sie glauben. Und dann verlieren wir die Verbindung zu ihr. Ich denke, wir müssen sie öfter aus uns rausholen und wieder besser kennenlernen, denn sie kann so viel Gutes bewirken. Das ist The Music That You Are.” Das Ergebnis klingt extrem spannend, gekrönt von einem tollen, mitreißenden Refrain.

Auch das folgende American Dream In Berlin macht mächtig Tempo, aber nicht plump, sondern immer mit der richtigen Idee zur richtigen Zeit. Mit einer sehr klugen Dramaturgie wird Pose I dann nach und nach ruhiger: Forest Fire setzt auf viel Eleganz, bleibt aber trotzdem nicht ohne Spannung, beispielsweise durch die aufgewühlten Streicher und einen O-Ton von Henry Miller am Ende. Schlagzeug und Gitarre im sehr hübschen A Little Love sind deutlich an Coldplay geschult, Anyone You Need To Call bleibt weitestgehend akustisch und beinahe verschlafen, bevor das Streicher-Interlude Tomorrow’s Somewhere Else den ersten Teil des Albums abschließt.

Die Streicher wurden durchweg von Anne de Wolff (Wir Sind Helden, Calexico, Bosse) eingespielt und sorgen auch auf Pose II immer wieder für originelle Kontrapunkte und Verzierungen, etwa im reduzierten und filigranen Rausschmeißer Pose. Auf die wilderen Helden seiner Jugend verweisen wohl Realize mit seiner Kombination aus sehr verzerrten Gitarren, reichlich Feedback und viel Hall auf der Stimme wie einst bei den Smashing Pumpkins, und BSTRD, das mit viel Drive und Power gut auf ein frühes Album der Foo Fighters gepasst hätte.

Der originelle Beat von Control erinnert daran, dass man es bei Tim Neuhaus mit einem studierten Schlagzeuger zu tun hat. Das folkige Lila wird größtenteils von US-Songwriter Ian Fisher gesungen, der schon beim 2013er Album Now einige Texte gemeinsam mit ihm geschrieben hatte. Tatsächlich werden die Songs im zweiten Teil des Albums gewagter, immer komplexer in ihrer Konzeption, aufwendiger in der Produktion und ambitionierter im Arrangement. Ein Lied wie Shine On zeigt jedoch, dass bei Tim Neuhaus auch in den ausgefallenen Momenten stets eine klasse Melodie, ein einnehmender Gesang und viele reizvolle Ideen erhalten bleiben. Mit anderen Worten: ein guter Song.

Wirklich alles selbst gemacht, beweist das Video zu The Music That You Are.

Im Dezember ist Tim Neuhaus mit Band auf  Tour.

05.12. Hannover, Lux
06.12. Bielefeld, Bunker Ulmenwall
07.12. Heidelberg, Karlstorbahnhof
08.12. Frankfurt, Brotfabrik
09.12. Köln, Artheater
11.12. A-Wien. B72
12.12. München, Ampere
13.12. Leipzig, Kupfersaal
14.12. Hamburg, Uebel & Gefährlich
15.12. Oberhausen, Druckluft
16.12. Bremen, Tower
17.12. Berlin, Musik & Frieden

Website von Tim Neuhaus.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.