Hingehört: My Morning Jacket – “Circuital”

Klassisch, aber nicht altbacken: "Circuital".
Klassisch, aber nicht altbacken: “Circuital”.
Künstler My Morning Jacket
Album Circuital
Label V2
Erscheinungsjahr 2011
Bewertung ***1/2

Man muss das beinahe putzig nennen. Da leben wir in Zeiten, in denen in Arabien die Autokraten gestürzt werden, in denen eine schwarz-gelbe Bundesregierung den Atomausstieg beschließt und in denen es schon als Sommer gilt, wenn es mal einen Tag lang nicht regnet. Aber trotz all dieses Wandels gibt es immer noch scharenweise junge Männer, die dem Reiz von Gitarre, Schlagzeug, Bass erliegen. Den elementaren Zutaten von Rockmusik. So wie My Morning Jacket. Auf den Promo-Fotos zu Circuital erinnern sie an das legendäre Bohemian Rhapsody-Video von Queen oder an den Rolling-Stones-Sampler Hot Rocks. Klassischer geht es fast nicht mehr.

Wobei man natürlich ehrlicherweise ergänzen muss: My Morning Jacket beschränken sich keineswegs auf das Grundprinzip des Rock, sondern haben ihren Sound schon immer gerne mit Elementen aus Country, Soul und Psychedelia angereichert. Und ganz jung sind sie auch nicht mehr. Das Quintett erlebt gerade des dritte Jahrzehnt seiner Karriere, Circuital ist immerhin schon das sechste Album der Band aus Louisville, Kentucky (übrigens die Geburtsstadt von Chuck Berry und somit mit einiger Berechtigung die Wiege des Rock’N’Roll).

Da liegt es durchaus nahe, ein bisschen zurückzublicken, sich seines Weges und seiner Selbst zu besinnen. Genau das tun My Morning Jacket auf Circuital, dem Album und dem gleichnamigen Lied. “On that song I sing about ending up in the same place where you started out. And that makes a lot of sense for this album… I hate the phrase ‘going back to our roots’, but for this record we came home and made it in Kentucky. And it just felt a lot like it did when we were first starting out”, erklärt Frontmann Jim James. Der Song beginnt geheimnisvoll, holt dann mit einer Pinball Wizzard-Gitarre vermeintlich Schwung, nimmt aber erst bei deren zweiten Anlauf eine Strophe später wirklich Fahrt auf. Da klingt die Komplexität von Arcade Fire durch, die Gitarrenverliebtheit von Neil Young, auch die Ursprünglichkeit von Clap Your Hands Say Yeah. Viel mehr Kreativität kann man in gut sieben Minuten kaum packen.

“The album’s like a rolling, gentle soundwave”, findet James, und das ist ein treffendes Bild. Der Auftakt Victory Dance ist düster und hart wie der Black Rebel Motorcycle Club oder Queens Of The Stone Age, aber ohne deren Betonung von Männlichkeit. Beim Siegestanz scheint James nur der Zuschauer zu sein, und am Ende meint man sogar ein ganzes Leben der Erniedrigung aus ihm herausbrechen zu hören.

Immer wieder beeindruckt auf Circuital vor allem sein Gesang. The Day Is Coming verleiht er eine faszinierende Leichtigkeit. Im akustischen Wonderful (The Way I Feel) singt er höchst zerbrechlich, am Ende klingt sein Tenor  fast wie eine singende Säge. Auch am Ende von Circuital brilliert er: Der Rausschmeißer Movin Away wird zauberhaft, davor steht mit Slow Slow Tune eine herbe Ballade im Stil von Nick Cave oder Glasvegas. Wieder ist da der Schmerz von Victory Dance, aber Gram wird hier durch Souveränität ersetzt, an die Stelle von Trotz ist ein blendender Stolz getreten.

Dazwischen darf auch die Band glänzen. Alles an Circuital haben My Morning Jacket in einer Turnhalle in Louisville live aufgenommen. “We wanted to capture the sound of us just playing, being in the same place and just feeding off each other”, erklärt Jim James diese Arbeitsweise. So bekommt Outta My System (dessen Melodie sich in der Strophe allerdings arg nah an Jerry Lee Lewis’ Breathless anlehnt) eine feine Dynamik. Holdin On To Black Metal ist keineswegs eine Brachial-Attacke, sondern dank Fuzz-Gitarre, Frauenchor und Bläsern äußerst funky. Auch das beinahe ausgelassene You Wanna Freak Out und First Light mit seinem luftigen Beat werden reizvoll. Unterm Strich ist das durchaus beeindruckend – und ein gutes Zeichen dafür, dass das Rezept von Gitarre, Schlagzeug, Bass wohl noch eine ganze Weile funktionieren wird.

My Morning Jacket spielen den Titelsong Circuital live in Los Angeles:

httpv://www.youtube.com/watch?v=J-3IdMKV4U0

My Morning Jacket bei MySpace.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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