Kraftklub, Quarterback Immobilien Arena, Leipzig

Kraftklub Leipzig Arena
Die anderen 11.995 Mitglieder der Band haben nicht aufs Bild gepasst. Foto: Universal Music / Philipp Gladsome

Eigentlich ist das alles ziemlich peinlich für Leipzig. Die sächsische Metropole ist mittlerweile die achtgrößte Stadt in Deutschland, seit 1998 ist die Zahl der Einwohner*innen um mehr als 200.000 Menschen gestiegen. Viele von ihnen kamen, weil die Messestadt zu Recht den Ruf genießt, ein tolles Zuhause für kreative junge Menschen zu bieten. Auf der deutschen Pop-Landkarte hat die Stadt aber trotz einiger Achtungserfolge in dieser Zeit kaum Spuren hinterlassen. Niemand von all den kreativen jungen Menschen ist hier Rockstar geworden, mit Rap groß rausgekommen oder auch nur in einer Castingshow weit gekommen. Denkt man an Leipzig und Popmusik, fallen den meisten Menschen wohl noch immer Die Prinzen ein.

Nun muss also eine Band aus Chemnitz (Bevölkerung: 243.000) kommen, die auf dem aktuellen Album ein Feature mit einer Band aus Magdeburg (Bevölkerung: 236.000) hat und im Vorprogramm eine Sängerin aus Kassel (Bevölkerung: 200.000) auftreten lässt, um die Quarterback Immobilien Arena zu füllen. Für Kraftklub ist es mit 12.000 Fans die größte Show der aktuellen Tour, seit Monaten ist das Konzert ausverkauft. Und natürlich wird es ein Triumph.

Zunächst aber noch ein Wort zu Leipzig und Peinlichkeiten: Die Quarterback Immobilien Arena wird seit 20 Jahren für Musikveranstaltungen genutzt, es ist die größte Indoor-Location der Stadt. Dass man es dort noch immer nicht hinbekommt, eine vernünftige Infrastruktur für Konzerte zu bieten, ist ein Witz. Am Einlass bilden sich zwei lange Schlangen, weil hinten stehend niemand erkennen kann, dass es vorne vier Schleusen zur Ticketkontrolle gibt. Entsprechend unnötig lange stehen die Fans in der Kälte, bis der Security-Mann schließlich entnervt rufen muss “Stellt euch nicht an, geht einfach durch!” Hätte man hier einfach mit Schildern, Gittern oder Personal deutlich gemacht, dass es vier statt nur zwei Schleusen gibt, wäre das alles nicht passiert. Dass 12.000 Menschen bei Schneefall in Leipzig auch 12.000 Jacken mitbringen und man demnach 12.000 Garderobenplätze benötigen wird, war für das Arena-Team offensichtlich auch völlig überraschend. Es ist entsprechend rührend, wenn Felix Kummer mit ein paar warmen Worten ordentlichen Publikumssupport für Mia Morgan im Vorprogramm einfordert, wenn sich gleichzeitig noch Hunderte Leute vor dem Eingang einer eilig eingerichteten Zusatz-Garderobe in der benachbarten Turnhalle quetschen, statt vor der Bühne feiern zu können. Genauso ärgerlich ist, dass diese Leute auch nach dem Konzert wieder ewig auf ihre Jacken warten müssen und nicht einmal die Gelegenheit haben, dem Gedränge mit einer kleinen Stärkung auszuweichen, weil die Getränke- und Imbisskioske alle bereits geschlossen haben. Das ist leider ein konstantes Problem in dieser Location, es ist amateurhaft und wäre bei einem aggressiveren Publikum als man es bei Kraftklub findet auch gefährlich.

Zum Glück sind die Fans in Leipzig wild entschlossen, sich von so etwas nicht die Laune verderben zu lassen. Sehr viele haben sich entschieden, mit ihrem T-Shirt, ihrer Frisur oder ihrem Make-Up ein Statement in dieser Halle zu setzen, alle haben beschlossen, einen großartigen Abend zu verbringen. Als zwischen Mia Morgan und Kraftklub etwas Musik aus der Konserve kommt (übrigens in der bezeichnenden Reihenfolge: The Streets/Mike Skinner, Kate Nash, Lykke Li, Tame Impala, The Killers, Florence & The Machine), wird bei Mr. Brightside schon fleißig mitgesungen, bei Unsere Fans als drittem Song des Kraftklub-Sets gibt es den ersten Crowdsurfer, bei Schüsse in die Luft hüpfen die Menschen so begeistert, dass sie wohl die eigene FFP2-Maske gar nicht mehr bemerken. Karl-Marx-Stadt wird von ein paar Bengalos auf der Bühne zusätzlich angefeuert, kurz vor der Zugabe herrscht Randale auch auf den Sitzplätzen in der Arena, Chemie Chemie Yeah ist einer von mehreren Songs, bei denen die 12.000 Fans mit ihrem gemeinsamen Springen nachweislich wieder einmal ein kleines Erdbeben in Leipzig auslösen. Am Ende werden es zweieinhalb Stunden purer Euphorie sein, in denen Kraftklub tatsächlich alle Songs von Kargo spielen und mit Ausnahme des live etwas schwachen Der Zeit bist du egal unterstreichen, wie umwerfend diese Platte ist.

Zweifellos sind Felix Kummer, Karl Schumann, Till Kummer, Steffen Israel und Max Marschk mittlerweile auch mehr als bereit für Bühnen dieser Größe. Bei Eure Mädchen bauen sie mit einem tollen Intro zusätzliche Spannung auf und bauen dann auch den Freeze-Gag ein, den man von den Hives kennt. Nach einer halben Stunde darf ein kleines Mädchen aus dem Publikum am Glücksrad drehen, welcher Song als nächstes gespielt wird (es wird Irgendeine Nummer) und den wahrscheinlich aufregendsten Moment seines Lebens erleben. Für Angst wird der Arbeitsplatz von Gitarrist Karl Schumann auf eine schwebende Bühne in der dritten Etage verlegt, bevor man die einmalige Erfahrung machen kann, dass Tausende Menschen mitten in Sachsen die Wörter “Alman Angst” singen, bevor sie direkt im Anschluss (nach Vierter September) “Ganz Leipzig hasst die AfD” skandieren. Dann sorgen die Gastauftritte von Mia Morgan (für das heftig gefeierte Kein Gott, kein Staat, nur Du) und Blond (für das geil chaotische So schön) für Abwechslung, für Kein Liebeslied klettern Kraftklub ins Publikum und spielen zwei Songs dort.

Kraftklub Leipzig Arena
Zweieinhalb Stunden Euphorie gibt es in der Arena.

Die Show in Leipzig zeigt dabei auch, wie hilfreich die Konstellation mit zwei Sängern ist, die sich die Aufmerksamkeit teilen und sich gegenseitig auch mal eine winzige Verschnaufpause ermöglichen können. Sicher ist (auch wenn nach Ende der Show Champagne Supernova die Fans nach Hause beziehungsweise in das Chaos vor der Garderobe begleitet) Felix nicht Liam und Karl nicht Noel, aber die Co-Frontmann-Idee ermöglicht auch bei ihnen eine sehr spezielle Dynamik, in der sich zudem beide immer wieder kurz zurücknehmen und gegenseitig zurechtrücken können.

Dass keiner von beiden hier wie ein Frontmann wirkt, der in Bewunderung der Fans badet, der auf einem Podest angehimmelt werden will oder entrückt von seinem Publikum seiner genialen Kunst nachgeht, ist dieser Konstellation zu verdanken, ebenso wie der unvergleichlichen Kraftklub-Attitüde. Wenn Felix Kummer angesichts der zurückliegenden Corona-Kapriolen betont, wie glücklich ihn dieser Abend macht (“Wir sind in erster Linie eine Liveband!”), wenn er (ausgerechnet) Coldplay zitiert mit dem zutreffenden Hinweis, man solle so ein Konzert im Herzen festhalten statt mit vielen Handyvideos, oder wenn er bei Ein Song reicht daran erinnert, dass Kraftklub dieses Lied im März spontan und gratis als Live-Comeback auf der Karl-Heine-Straße in Leipzig gespielt haben, dann wird klar, wie einmalig diese Band und ihr Zusammenhalt mit den Fans ist.

“Wir sind nicht Tocotronic” haben sie schon vor zehn Jahren in Eure Mädchen betont, und ein entscheidender Unterschied wird auch in diesem Konzert deutlich. Die Hamburger suchten mit der (natürlich auch ironisch gemeinten) Zeile “Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein” quasi als Konsumenten vor allem Bestätigung und Rückhalt in einer bereits bestehenden, möglichst homogenen und gerne auch etwas elitären Szene, die ihnen das Leben einfacher machte. Kraftklub hingegen haben so eine Jugendbewegung tatsächlich selbst losgetreten, als Produzenten. Sie haben dafür ein gemeinsames Werte-Fundament etabliert, das anerkennt, dass das Leben nicht einfach ist, und zugleich für sehr unterschiedliche Gruppen offen steht. Nicht zuletzt haben sie es geschafft, authentisch mit dieser Bewegung zu wachsen. Denn es geht hier nicht um Ruhm und Reichtum. Es geht darum, etwas zu bewirken. Es geht um Haltung, Empowerment und Gemeinschaft. Alle 12.000 Menschen in dieser Halle sind an diesem Abend Teil dieser Band, und wenn Felix Kummer am Ende des gleichnamigen Songs davon singt, dass Kraftklub vielleicht irgendwann wieder im Sprinter statt im Luxus-Reisebus unterwegs sein und sich nach dem Konzert alle dasselbe Klo teilen müssen, dann ist das tatsächlich ebenso glaubhaft wie seine Andeutung, dass man ihn nach der Show in der Arena noch irgendwo im Leipziger Nachtleben finden wird. Denn ganz offensichtlich liegen dieser wundervollen Band ihre Musik, ihre Botschaft und ihr Publikum weiterhin mächtig am Herzen.

Kraftklub spielen (dank Glücksrad) Irgendeine Nummer in Leipzig.

Die Setlist von Kraftklub in Leipzig:
1 In meinem Kopf
2 Fahr mit mir (4×4)
3 Unsere Fans
4 Wittenberg ist nicht Paris
5 Eure Mädchen
6 Teil dieser Band
7 Ich will nicht nach Berlin
8 Irgendeine Nummer
9 Wie ich
10 Der Zeit bist du egal
11 Angst
12 Vierter September
13 Kein Gott, kein Staat, nur Du
14 So schön
15 Kein Liebeslied
16 500k
17 Karl-Marx-Stadt
18 Schüsse in die Luft
19 Randale
20 Chemie Chemie Yeah
Zugabe 1 Blaues Licht
Zugabe 2 Ein Song reicht
Zugabe 3 Songs für Liam

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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