Seamus Fogarty – “A Bag Of Eyes”

Künstler Seamus Fogarty

Seamus Fogarty A Bag Of Eyes Review Kritik
Elektronik fällt auf “A Bag Of Eyes” gerne über Folksongs her.
Album A Bag Of Eyes
Label Domino
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

Shapes heißt das erste Lied auf dieser Platte, es beginnt meditativ und instrumental, erst nach knapp zwei Minuten setzt der Gesang von Seamus Fogarty ein, ändert aber wenig an dieser mystischen Grundstimmung. Dann erklingen die Zeilen “This town is such a dump / give me the countryside / and the birds to wake me up”, und sie sind ein guter Wegweiser für das wichtigste Prinzip von A Bag Of Eyes. Denn der Gegensatz zwischen der angeblichen Hässlichkeit der Urbanität und der vermeintlichen Idylle das Landlebens verweist auf Widersprüche und Kollisionen, die der in London lebende Ire auf seinem dritten Album immer wieder ganz bewusst sucht.

„Als ich anfing, hatte ich keineswegs den Ansatz: Ich will ein Album machen, das so und so klingt. Vielmehr war die Idee: Ich will ein Album machen, das wie nichts sonst klingt“, erzählt Seamus Fogarty über den Nachfolger von The Curious Hand (2017). Er hatte auch eine sehr konkrete Idee, wie sich dieses Ziel erreichen lässt. „Ich mag es, absichtlich Musik zu machen, die sich mit meinen eher traditionellen Ansätzen reibt. Es gibt viele tolle Leute, die unglaubliche Folksänger sind. Und es gibt viele großartige Leute im Elektronik-Bereich. Aber ich denke, ich kann ein bisschen von Beidem und ich mache daraus etwas Eigenes“, fasst er die hier zu findende Ästhetik gut zusammen. „Es geht darum, neue Klangwelten zu erschaffen und zu erkunden. Ich wollte mit neuen Arten experimentieren, wie man Elektronik in den Songwriting-Prozess integrieren oder in einigen Fällen den üblichen Songwriting-Prozess auch komplett überwinden kann.“

Was das für Resultate bringt, zeigt beispielsweise das instrumentale Wake Up Felix. Hört man da singende Gläser? Eine schroffe E-Gitarre? Einen Vogelschwarm in der Ferne? Die Quellen der Geräusche sind tatsächlich nur aus dem Booklet zu identifizieren, dort allerdings auch nur als “harmonica, electronics” bezeichnet. Nuns beginnt wie ein Beitrag aus dem Kinderfernsehen über das mysteriöse Verschwinden der Nonnen aus dem Alltagsleben, aus dem sich dann nach rund einer Minute eine bedrohliche Kakophonie entwickelt, bevor es wieder beschaulicher weitergeht. Der Gesang im ersten Teil von Horse könnte aus der Barbershop-Ära stammen, der Beat wirkt maschinell, das Banjo klingt selbstvergessen, dazu gibt es Science-Fiction-Geräusche – jedes Element scheint sich in seiner eigenen Welt zu bewegen und das Ergebnis wirkt wie die Beta Band als Country.

Ghosts gerät träge, rätselhaft und wunderschön. Seamus Fogarty baut hier ein Sample eines seiner Konzertbesucher namens Dominick Owen ein, der bei einem Gig in Dublin im November 2018 zu ihm auf die Bühne kam und einen so eindrucksvollen Monolog ins Mikrofon sprach, dass er nun auch auf A Bag Of Eyes verewigt ist. Johnny K. wird ein sechsminütiges Klangabenteuer im Stile von A Day In The Life, lässt aber auch erkennen: Eine so originelle Melodie würde in jedem Arrangement und mit jeder Instrumentierung überzeugen. In Bus Shelter Blues wirkt alles brüchig und spontan, Blues ist hier eher die Geisteshaltung (und in jedem Fall der Text) als der Takt oder die Tonleiter.

Zu den zugänglichsten Momenten des Albums gehört Jimmy Stewart. Aus einem kryptischen Beginn entwickelt sich zuerst ein schön-schräges Szenario („Did you ever feel like Jimmy Stewart / sitting staring out the window / making stories up about the neighbours / I have“), dann ein reizvoller Countryrock-Drive. In Old Suit sorgt der straighte Beat eines Drumcomputers für Struktur, der Rest kann sich somit noch reduzierter (das Banjo) oder experimenteller (das Feedback) verhalten. San Francisco bleibt fast acappella, aber sehr stimmungsvoll, weil es hier nicht mehr braucht als den Gesang, um die nötige Spannung zu erhalten.

Den Abschluss der Platte macht My Boy Willie. Es klingt wie ein uralter Folksong (und das ist es auch, nämlich ein taditionelles Seefahrerlied) und ist im Prinzip der einzige klassische Singer-Songwriter-Moment auf A Bag Of Eyes. Der Rest klingt so, wie Seamus Fogarty es noch einmal auf den Punkt bringt: „Es ist, als hätte man Teile von allem Möglichen in einen Mischer geworfen. Aber sie vermischen sich nicht.“

Im Video zu Jimmy Stewart erweckt Seamus Fogarty seinen eigenen Avatar zum Leben.

Website von Seamus Fogarty.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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