Vacations No Place Like Home

Vacations – “No Place Like Home”

Künstler*in Vacations

Vacations No Place Like Home Review Kritik
Eine Schreibblockade hätte “No Place Like Home” beinahe verhindert.
Album No Place Like Home
Label Nettwerk Records
Erscheinungsjahr 2024
Bewertung Foto oben: (C) LaSoundCheck / Andrew Boyle

Fast 7,7 Millionen Quadratkilometer groß ist Australien. Bei knapp 26 Millionen Einwohner*innen bedeutet das: Für jeden Menschen dort stehen etwa 30 Hektar Land zur Verfügung. Dass dieses riesige Land für Campbell Burns, Sänger und Gitarrist von Vacations, trotzdem nicht mehr groß genug ist, kann man bezeichnend finden.

“Jedes Mal, wenn ich nach einer Tournee nach Australien zurückkam, fühlte es sich richtig gut an. Ich dachte: ‘Okay, ich bin zu Hause. Hier gehöre ich hin.’ Aber in letzter Zeit kam ich an einen Punkt, an dem sich jedes Mal, wenn ich zurückkam, etwas anders anfühlte. Ich wollte zurück in die USA. (…) Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich alles ausgereizt hatte, was es in Australien zu tun gab. Ich musste nach Übersee, wenn ich weiter vorankommen wollte – aus beruflicher Sicht, aber auch auf persönlicher Ebene”, erklärt er die Bedeutung von No Place Like Home, dem dritten Albums das Quartetts. Die Band kommt zwar aus Newcastle in New South Wales, wo der oben genannte Wert zugegebenermaßen nur noch 0,08 Hektar pro Person beträgt. Die riesigen Ambitionen sind Vacations aber in jedem Moment anzuhören, ebenso das unerschütterliche Vertrauen in die Bedeutung und Kraft der eigenen Musik.

Dass Campbell Burns, der mittlerweile in Los Angeles lebt, und seine Bandkollegen Jake Johnson, Nate Delizzotti und Joseph Van Lier bei Bedarf zu jedem der zehn gemeinsam mit John Velasquez produzierten Songs eine komplexe Analyse und eine interessante Hintergrundgeschichte liefern können (No Place Like Home verhandelt auch das Ende einer Beziehung; “man könnte es Trennungslied interpretieren, in dem es darum geht, dass man herausfinden muss, wo man eigentlich hingehört”, sagt der Frontmann) belegt diese These. Noch deutlicher unterstrichen wird sie durch den Schock, den Vacations erlitten, als sie Corona-bedingt plötzlich keine ständig auf Tour befindliche Rockband mehr sein konnten: Burns und seine Mitstreiter vermissten erst den Adrenalin-Kick der Livekonzerte, dann war der Kopf der Band kreativ völlig blockiert. “Es fiel mir jahrelang extrem schwer, etwas zu schreiben. Ich wusste nicht mehr, was die Stimme von Vacations war, oder sogar meine eigene, im alltäglichen Sinne. Ich musste einen Weg finden, mich wieder in die Musik und so vieles andere in meinem Leben zu verlieben, andernfalls wusste ich: Ich würde einfach aufhören zu existieren”, sagt er im Rückblick.

Als er das Problem mit einer Therapie zu überwinden suchte, kam obendrein noch die Diagnose einer Zwangsstörung namens “Pure OCD” hinzu. “Wenn ich einen aufdringlichen Gedanken habe, gebe ich diesem Gedanken Glauben und Macht über mich selbst”, beschreibt er die Effekte. “Ich fing an, gegen eine Wand zu stoßen, und dann gegen eine weitere Wand.”

Gleich zwei Lieder auf No Place Like Home kreisen um die Auseinandersetzung mit dieser Krankheit. In Over You singt Campbell Burns aus der Perspektive seiner Zwangsstörung, der dazugehörige Songs findet wie viele Stücke des Albums einen cleveren Mix aus (etwa 85 Prozent) Wohklang und (rund 15 Prozent) Experimenten. Das sehr hübsche Terms & Conditions beschreibt die Erleichterung und Entschlossenheit im Moment der Diagnose. “Ich war mir schon vorher bewusst, dass ich ein gewisses Maß an sozialen Ängsten und Depressionen hatte. (…) Aber ich war so begeistert, als ich meine Diagnose erhielt, denn sie gab mir eine Richtung vor. Ich dachte: ‘Okay, ich kann das nun durchstehen und lernen, damit zu leben.” Auch dieser Track zeigt eine typische Qualität von Vacations: So sehr ihre Lieder das Besondere anstreben und gefallen wollen, so wenig kommen sie angeberisch daher. Das passt zum Anspruch, den der Komponist an den Song hatte: “Ich wollte damit erreichen, dass andere Leute, die eine ähnliche Situation oder Erfahrung haben, sich gut fühlen können. Niemand sollte sich ausgegrenzt oder entfremdet fühlen, wenn er mit seiner psychischen Gesundheit zu kämpfen hat. Jeder möchte einfach nur gehört werden und sich akzeptiert fühlen.”

Als Blaupause für den Sound der Platte kann man auch die Single Next Exit betrachten, die das Album eröffnet. So gerne hier die Tücken des Lebens erkannt und die daraus folgenden Verwirrungen und Verletzungen reflektiert werden, so optimistisch bleibt bei Vacations letztlich die Grundhaltung. Die Gitarre scheint mit der Falsett-Stimme einen Wettbewerb zu starten, wer die höchsten Töne in dieses Lied einbringen kann, dazu kommt etwas, das wie verfremdete Steel Drums klingt. So würden vielleicht Phoenix mit Dreck unter den Fingernägeln klingen, auch Anklänge an The Drums kann man erkennen.

Die Gitarre in Slow Motion ist düster, kalt und kaputt wie bei Joy Division oder Suicide, aber insbesondere die Gesangsmelodie im Refrain ist himmlisch einnehmend. Das instrumentale Arizona hätte sicher den Jungs von MGMT gut gefallen, Off-Season vereint Breitwand-Sound mit einer erzählerischen Perspektive, Midwest wird erstaunlicherweise vom Bass getragen, ohne dabei sonderlich groovy zu werden.

Wie sehr Vacations auch vom Zusammenspiel und gegenseitigen Anstacheln und Hochschaukeln leben, zeigt Close Quarters. “Wir hatten eine Session, bei der wir sehr kindlich an die Sache herangegangen sind. Wir spielten mit allen Instrumenten im Raum, ich nahm auf, und John und Nate saßen am Klavier. Jemand spielte auf den Tasten, jemand ließ einen Schlagzeugstock über die Saiten des Klaviers laufen. Wir gingen durch den Raum und suchten nach anderen Dingen, die wir anschlagen konnten. Wir haben das alles verdichtet, umgedreht, gedehnt und zerlegt, und daraus wurde ein Sample”, beschreibt Burns den Entstehungsprozess.

Die Abenteuerlust von Vacations hört man, wenn auch auf ganz andere Weise, auch im Schlusspunkt Lost In Translation. Country, Psychedelik und Shoegaze flirren darin kurz vorbei, im Kern ist es aber einfach eine sehr schöne Ballade mit genau der richtigen Balance aus Selbstmitleid und Romantik (auch das ist ein Stärke, die man hier immer wieder entdecken kann). “Ich hatte dieses lose Konzept, dass No Place Like Home ein Americana-beeinflusstes Album sein sollte”, erläutert Campbell Burns dieses ziemlich ungewöhnliche Klangspektrum. “Ich wollte mehr Pianos, akustische Gitarren, Nashville-Tuning und Country-inspirierte Lap Steel einbauen, aber auch Drum-Maschinen und Synthesizer einbringen und eine Mischung aus beidem finden.”

Dieser Ansatz ist oft Segen, manchmal aber auch Fluch für No Place Like Home. Das Album bleibt immer interessant, weil es so verspielt ist. Es ist aber auch immer so verspielt, dass aus den Liedern niemals wirkliche Kracher werden.

Den Kontrast aus Lockdown-Langeweile und Konzert-Euphorie zeigt der Clip zu Next Exit.

Website von Vacations.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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