Brown Horse Reservoir

Brown Horse – „Reservoir“

Künstler*in Brown Horse

Brown Horse Reservoir Album Review
Brown Horse haben „Reservoir“ in vier Tagen aufgenommen.
Album Reservoir
Label Loose Music
Erscheinungsjahr 2024
Bewertung Foto oben: (C) Stargazer / Katie Jones Barlow

813.540 Kinder haben 2022 in Deutschland ihren ersten Schultag erlebt. Fast 1,2 Millionen Menschen brachten ihre praktische Führerscheinprüfung hinter sich. 36.000 haben eine Umschulung begonnen. Das klingt als Statistik alles nicht sonderlich beeindruckend. Diese Zahlen gibt es schließlich jedes Jahr, mit leichten Schwankungen nach oben und unten. Wenn man aber selbst zu einer dieser Teilmengen gehört, dann wird es mächtig aufregend. Der Nervenkitzel am ersten Schultag! Die vor lauter Nervosität nassgeschwitzten Hände am Lenkrad! Die schlaflosen Nächte beim Grübeln, ob man sich mit der neuen Ausbildung für den richtigen Weg entschieden hat! Das ist nichts weniger als spektakulär, unvergesslich, prägend.

So ähnlich kann man sich vielleicht die Gefühlswelt von Brown Horse vorstellen. Was Patrick Turner (Gesang, Gitarre), Emma Tovell (Lap Steel, Banjo), Nyle Holihan (Bass), Rowan Braham (Akkordeon), Ben Auld (Schlagzeug) und Phoebe Troup (Gesang) gemeinsam machen, gruppiert iTunes sehr treffend als „Americana“ ein, obwohl die Band aus Norwich in England kommt. Man könnte auch „Heavy Country“ zu dieser Musik sagen, die von Acts wie Uncle Tupelo, den Silver Jews oder Jason Molina geprägt wurde, auch Will Oldham oder Giant Sand darf man in dieser Reihe sicher nennen.

Es gibt auf Reservoir, dem heute erscheinenden Debütalbum des Sextetts, ausgiebige Instrumentalpassagen und häufig wiederholte Verse, es geht um Stimmung statt um Ereignisdichte. Man hat das alles schon sehr, sehr oft in ähnlicher Weise gehört. Aber wenn man mittendrin steht und diese Musik selbst machen kann, ist das eben doch eine ziemlich bewegende Erfahrung. Und es ist dieser Enthusiasmus, der die Platte trägt. Man merkt, dass hier Musiker*innen am Werk sind, die bestens mit den Traditionen dieses Genres vertraut sind. Sie für sich selbst zu erproben (und zu erweitern), fühlt sich für sie aber offenkundig dennoch wie ein großes Abenteuer an.

Der Auftakt Stealing Horses zeigt das gleich überdeutlich: Das Stück handelt (auch) davon, welche Bedeutung die Country-Musik für die darin auftauchenden Protagonist*innen hat, ein Lied von Jimmie Rodgers spielt eine wichtige Rolle, und die ersten Zeilen stellen auch gleich eine Verbindung zwischen den Generationen her: „From 1999 to 2004 / I was stealing horses / you weren’t even born.“ Paul Gilley trägt den Bezug zur Musikhistorie schon im Songtitel. „Paul Gilley wrote the words to the saddest song that Elvis ever heard“, heißt es über den gleichnamigen Songwriter aus Kentucky, der im Alter von siebenundzwanzig Jahren im Teich seiner Nachbarn ertrank. Er hat unter anderem die Texte für die Genre-Klassiker Cold, Cold Heart und I’m So Lonesome I Could Cry geschrieben. „If you listen long enough to the water / you hear something you don’t want to hear“, heißt es nun unheilschwanger bei der Erinnerung an ihn.

Brown Horse begannen 2018 als Quartett und spielten Folk in jeder englischen Kneipe, die ihnen eine Bühne bot. Nach einer Covid-Zwangspause stieß 2022 Ben Auld dazu, im vergangenen Sommer komplettierte Phoebe Troup dann die Besetzung. Reservoir haben sie in nur vier Tagen in den Sickroom Studios in Norfolk mit Owen Turner als Produzent aufgenommen. „Das Studio dort oben ist im Grunde eine riesige Scheune, umgeben von Feldern und Feuchtgebieten. Es fühlte sich an wie in Big Pink oder so. Es ist nicht zu ausgefallen, nur ein sehr ruhiger und schöner Ort. Ein paar Schritte von der Eingangstür des Studios entfernt gab es einen kleinen Anbau mit ein paar Etagenbetten, in denen wir einschliefen, nachdem wir den ganzen Tag aufgenommen hatten. Zwischen den Aufnahmen hingen wir einfach in der Sonne herum“, erzählen sie über den Entstehungsprozess.

Diese Stimmung kann man etwa in Sunfisher erahnen, das am deutlichsten die Freude und Harmonie in ihrem Zusammenspiel zeigt. Das Reservoir füllt sich ganz gemächlich mit Intensität und durchaus auch Spannung. Everlasting könnte 1:1 aus den Siebzigern kommen, vom Harmoniegesang bis zum Gitarrensolo, bei Bloodstain kann man Neil Young & Crazy Horse heraushören, insbesondere der tolle Bass und die muntere Orgel haben darin hörbar Lust, ein bisschen Chaos zu stiften.

Zur Produktivität und zum Facettenreichtum von Brown Horse trägt bei, dass es jeweils unterschiedliche Autor*innen für die Texte gibt, während die Musik immer gemeinschaftlich entsteht, basierend auf der Grundidee jeweils anderer Bandmitglieder. Der Gesang kommt meist von Patrick Turner, dessen Stimme eine etwas irritierende Ähnlichkeit mit Tracy Chapman hat, wie man etwa im akustischen Schlusspunkt Called Away nachhören kann, die sehr hellen Vocals von Phoebe Troup setzen dazu reizvolle Kontrapunkte.

Nicht zuletzt bietet Reservoir – keine Selbstverständlichkeit bei einer Band mit Wurzeln im Folk – auch eine gute Dynamik. Shoot Back zeigt einen zumindest zu erahnenden Vorwärtsdrang, Outtakes wird nicht rasant oder plakativ, aber trotzdem kraftvoll. In Blue Roses/Silver Bullet scheinen Brown Horse anfangs selbst nicht sicher zu sein, ob sie dieses deutlich höhere Tempo wirklich bewältigen können, dann finden sie aber schnell zusammen in die Spur.

„Als es an der Zeit war, das Album aufzunehmen, war es am schwierigsten herauszufinden, welche Songs wir weglassen mussten“, sagte die Band über ihr Debüt. „Wir alle sind Songwriter, und jeder von uns schreibt seit Jahren, was bedeutete, dass wir mit einem ziemlich großen Fundus an Songs ins Studio gingen, von denen wir nicht hoffen konnten, sie alle in nur ein paar Tagen aufzunehmen. Letztendlich hatten wir das Gefühl, dass die Songs, aus denen sich Reservoir zusammensetzt, etwas gemeinsam haben: eine Art dunkler Unterton, der an manchen Stellen an Verzweiflung grenzt. Es ist eine Art trauriges Album, was seltsam ist, wenn man bedenkt, wie viel Spaß wir bei der Arbeit daran hatten“.

Das Video zu Sunfisher zeigt die Gegend rund ums Studio.

Brown Horse bei Spotify.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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