Wolf Alice – “Blue Weekend”

Künstler*in Wolf Alice

Wolf Alice Blue Weekend Review Kritik
Wolf Alice umgehen auch auf Album #3 die Klischee-Falle.
Album Blue Weekend
Label Dirty Hit Records
Erscheinungsjahr 2022
Bewertung

Was macht man bloß, wenn man als Rockband mit dem Debüt (in diesem Fall: My Love Is Cool aus dem Jahr 2015) gleich Platz 2 zuhause im UK erreicht hat und für den Nachfolger mit Lob überschüttet wurde (in diesem Fall: der Mercury Prize 2018 und eine Grammy-Nominierung als beste Rock-Performance für Visions Of Life)? Es gibt dann normalerweise zwei Optionen: Erstens kann man versuchen, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist. Dann legt man schnellstmöglich eine dritte Platte nach, die klanglich möglichst nahe an den beiden Vorgängern orientiert ist. Zweitens: Man stürzt in eine Krise und jammert über die Last des Erfolgs.

Wolf Alice machen stattdessen ein Blue Weekend. Das dritte Album von Ellie Rowsell (Gesang, Gitarre), Joff Oddie (Gitarre, Gesang), Theo Ellis (Bass) und Joel Amey (Schlagzeug, Gesang) zeigt, dass ihnen beide eingangs erwähnte Varianten nicht völlig fremd sind. Aber natürlich ist diese 2011 gegründete Band viel zu clever, um in eine Klischee-Falle zu tappen.

Dem Hauch von Krise und Sinnsuche nach unzähligen Konzerten, Festivalauftritten und Schulterklopfern begegneten Wolf Alice mit dem Rückzug in ein Haus in Somerset, wo die Basis des Materials für Blue Weekend entstand. Dann ging es mit Produzent Markus Dravs (Arcade Fire, Björk, Brian Eno, Florence & The Machine) in Brüssel und London ins Studio. Die Sache mit dem zu schmiedenden Eisen bedient das Quartett, indem seine Fans hier genau das finden, was sie schon zuvor an Wolf Alice geschätzt haben dürften.

Dass dazu auch Unberechenbarkeit gehört, sollte klar sein und führt auf dieser Platte sowohl zu einer Weiterentwicklung als auch zu etlichen Überraschungen. Allein, was auf Blue Weekend zwischen den Tracks 3, 4 und 5 passiert, ist absolut irre und so bei praktisch keiner anderen Band vorstellbar. Da ist zunächst Lipstick On The Glass. Die Stimme von Ellie Rowsell ist dahin besonders hoch und wird über weite Strecken nur von der E-Gitarre begleitet, im Ergebnis klingt sie wie eine verdorbene, draufgängerische (auch wegen der Zeilen “Oh but there’s no pleasure in resisting / so go ahead and kiss me”) Version von Heather Nova. Es folgt Smile, das sowohl eine Aggressivität offenbart, die sich mit Rage Against The Machine messen kann ( “Don’t call me mad / there’s a difference / I am angry”, beginnt die zweite Strophe), als auch einen erstaunlich sphärischen Refrain, der zu Shoegaze oder den B-52’s passen würde. Dem lassen Wolf Alice noch das zauberhafte Safe From Heartbreak (If You Never Fall In Love) folgen, das auf Folk-Ästhetik mit Picking auf der akustischen Gitarre und Harmoniegesang setzt.

Auch jenseits dieser Trias ist das Spektrum beträchtlich groß. Play The Greatest Hits beispielsweise ist lupenreiner, wilder, origineller Punk, How Can I Make It OK? wirkt hingegen geheimnisvoll, aufgewühlt und mutig wie eine traumatisierte Version der Bangles, The Beach II beschließt das Album mit einer faszinierenden Atmosphäre. Das Gegenstück The Beach eröffnet Blue Weekend als erstaunlich zurückhaltender Beginn, bis dann nach einer knappen Minute ein Brodeln beginnt, das sich nach einer weiteren Minute in ein großes, elegantes Drama verwandelt. Die Erkenntnis darin heißt: “We don’t need to battle and we both shall win.”

Delicious Things blickt am deutlichsten auf die Veränderung, die der Erfolg für Wolf Alice gebracht hat. Ellie Rowsell singt hier über die Verwunderung, sich plötzlich in Los Angeles zu befinden, und dort auch noch umschwärmt zu werden, und über die Herausforderung, das alles zu bewältigen. Im Song schimmert ein bisschen von der amerikanischen Dekadenz von Lana Del Rey durch, aber in einer viel kraftvolleren Ausprägung. No Hard Feelings besteht nur aus Bass und Gesang. Das Lied zeigt damit, was bei aller Nähe zum Opulenten, Cineastischen und Gloriosen, die man hier – unter anderem in den Streicher-Arrangements von Owen Pallet – auch finden kann, im Zentrum der Stärke dieser Band steht: Authentizität, Emotionalität und klasse Songs mit tollen Spannungsbögen und feinen Melodien.

Die Vorab-Single The Last Man On Earth handelt laut Ellie Rowsell von der Arroganz der Menschen, vertont das sehr eindringlich mit einem Klavier im Zentrum und letztlich grandios in seiner Konzeption und Umsetzung. Feeling Myself ist sicher nicht der spektakulärste Track auf diesem Album, zeigt aber noch einmal sehr deutlich, was Wolf Alice ausmacht: Ihre Stärke erwächst daraus, dass sie ihre Verletzlichkeit bekennen.

Das Video zu How Can I Make It Ok? macht Lust auf Karaoke.

Website von Wolf Alice.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und mittlerweile in der Wissenschaftskommunikation tätig. Auf Shitesite.de beschäftigt er sich als Hobby mit Musik, Literatur, Film, Popkultur und allem, was er der Welt mitteilen möchte. Er lebt (und zwar liebend gern) in Leipzig.

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