Chaoze One Venti

Chaoze One – „Venti“

Künstler*in Chaoze One

Chaoze One Venti Review Kritik
„Venti“ ist das erste Rap-Album bei GHvC.
Album Venti
Label Grand Hotel van Cleef
Erscheinungsjahr 2021
Bewertung Foto oben: Wikimedia Commons / Giulia Vitali

Diese Platte bietet reichlich Überraschungen, und das beginnt schon, bevor man auch nur den ersten Ton gehört hat. Jan Hertel, so der bürgerliche Name von Chaoze One, ist seit mehr als 20 Jahren im Rap-Geschäft, aber sein letztes Album stammt aus dem vor-vorigen Jahrzehnt. Mit 40 Jahren wagt der in Mannheim lebende Künstler jetzt so etwas wie ein Comeback, und die Plattform dafür bietet ihm die sonst für kluge Gitarrenmusik statt für Sprechgesang bekannte Plattenfirma Grand Hotel van Cleef.

Beide können diese unerwartete Konstellation indes gut erklären. „Venti ist die erste Hip Hop-Platte auf GHvC, und der Opener Memento Moria / Die Welt brennt der erste echte Rap-Track auf unserem Label. Aber Genres sind egal. Denn beim Hören dieses Songs – auch beim vierhundertsten Mal – fangen Gehirne und Herzen an zu glühen. Der Song und diese Platte umfasst all das, was wir denken und fühlen, wie wir Dinge sehen und was wir fordern“, schreibt die Plattenfirma aus Hamburg. Chaoze One nennt „eine Sinnkrise, persönlich und politisch“, als Ausgangspunkt des Albums. „Venti erzählt von Zweifeln und Verzweifeln, von Sackgassen und dem Aushaltenmüssen. Von Liebe und Ekel für die Welt.“

Das trifft es sehr gut, und dass die Platte vor Haltung nur so strotzt, dürfte niemanden überraschen, der Chaoze One noch aus seiner Anfangszeit kennt, oder der ihn während der 2010er Jahre begleitet hat, als er seinen Schwerpunkt aufs Theater und noch mehr auf politisches Engagement verlegte (ein Beispiel ist die 2019 veröffentlichte Quasi-Biografie Spielverderber – Mein Leben zwischen Rap & Antifa).

In den knapp 70 Minuten von Venti wird klar: Hier gibt es klare Überzeugungen als Fundament, und bei diesen gibt es keinerlei Lust auf Kompromisse. Die Platte mischt Genres und Sprachen, Samples und Gastauftritte und wird dabei radikal (im Sinne von hemmungslos) in der Ästhetik und genauso radikal (im Sinne von unnachgiebig) in der Position.

Das schon erwähnte Memento Moria – Die Welt brennt eröffnet die Platte. Das gesprochene Quasi-Gedicht, aus dem die ersten zwei Minuten bestehen, könnte leicht blasiert wirken, erweist sich aber schnell als perfekte Einstimmung für die folgenden 16 Tracks: Es baut Spannung auf, umreißt die Themen von Chaoze One und stellt seine Perspektive klar. Nicht zuletzt wird es erstaunlich heavy, auch dank vieler echter Instrumente, die hier im Vergleich zu Computersounds und Samples klar dominieren (was die GHvC-Kompatibilität erhöht).

Auch Schwarzmaler, das als Reggae beginnt, ist am Schluss rockig. „Ich mach mir die Welt wie sie mir gefällt“, singt Chaoze One, und aus diesem Pipi-Langstrumpf-Zitat spricht nicht Naivität, sondern Gestaltungswillen. Häuser vs. Träume könnte zu den Toten Hosen passen, wenn sie Lust auf musikalische Turbulenzen hätten. Schattenboxen ist mit seiner prominenten E-Gitarre hart auch sich selbst gegenüber. Get The Fuck Up – Das bisschen Totschlag lässt schon im Titel seine Aggressivität erkennen, und legt den Finger so tief in die Rechtsruck-Wunde, dass es garantiert schmerzt. Und das soll es auch.

Ansonsten liebt es Chaoze One hier stilistisch kunterbunt. Auf Vive l’utopie kann man jede halbe Minute einen komplett neuen Sound (und viel Glaube an die Tragfähigkeit linker Ideen) entdecken. Daloy Politsey (mit Mal Élevé und Torsun von Egotronic als Gästen) behandelt Polizeigewalt und Rassismus, musikalisch ebenfalls als Achterbahnfahrt. Patronen aus Schuld erzählt sehr funky von einer Außenseiter-Vita, Dass es besser wird verpackt Mental-Health-Reflexionen in einen Bläser-Groove à la Brassbanda, Ausguck setzt auf Folk-Ästhetik mit Akkordeon, Klavier und Mundharmonika. Das verströmt nicht nur viel Romantik, sondern auch die Erkenntnis: Natürlich muss man ein Träumer sein, wenn man so ein großer Idealist ist wie Chaoze One.

Zu den Überraschungen der Platte gehören auch die vielen Metaphern und Motive rund ums Meer. So weit von Zuhaus handelt von Unternehmungslust und Neugier auf Menschen, von Eindrücken und Überraschungen, vom Reisen als Methode des Lernens und zur Selbstfindung. Ich hab das Meer gesehen deutet an, dass dieser Satz offensichtlich eine Sache auf der Bucket List von Chaoze One war, aber auch hier geht es letztlich mehr um Gemeinschaft als um Selbstverwirklichung. „Wir (!) haben das Meer gesehen“, heißt es nämlich im Text, die Fahrt dahin erweist sich als Widerstand gegen vermeintliche Zwänge, als Absage an Bescheidenheit und Anpassung, die mitunter bloß schlecht getarnte Feigheit sind.

Santa Maria wird zum enorm klugen Abschluss für Venti, denn auch hier klingt es zunächst nach Egotrip eines wohlhabenden Aussteigers, bis klar wird, wer da Erzähler ist und wo das Reiseziel liegt. „Irgendwann baue ich ein Schiff / und fahre damit übers Meer / Santa Maria / ich nenne es dann Santa Maria.“ Noch klüger ist das, weil so eines der Schiffe von Christoph Kolumbus hieß, das nicht nur die Neue Welt entdeckte, sondern damit auch den Startschuss zu Kolonialismus, Ausbeutung und dem Gedanken der westlichen Hegemonie gab.

Fazit: Ungewöhnlich? Auf jeden Fall. Anstrengend? Manchmal. Interessant? As fuck!

Das Video zu So weit von zuhaus zeigt Chaoze One als Wandersmann.

Website von Chaoze One.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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