Autor | Heinz Strunk | |
Titel | Der goldene Handschuh | |
Verlag | Rowohlt | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Bewertung |
Erstaunlicherweise ist (meines Wissens) noch niemand auf die Idee gekommen, Heinz Strunk in die Riege der deutschen Popliteraten einzureihen. Dabei ist er erstens populär (allein sein Romandebüt Fleisch ist mein Gemüse verkaufte sich eine halbe Million Mal). Und zweitens hat er eine ausgeprägte Verbindung zur Musik, von seiner Zeit in der Tanzkapelle Tiffany’s, von der eben dieser Roman handelt, über die musikalischen Ausflüge von Studio Braun bis hin zur Tatsache, dass er einst eine Sendung auf Viva moderierte oder in einem Video von Scooter mitspielte.
Wer aus dieser Ecke kommt (und auch sonst umtriebig ist, etwa als Schauspieler oder Spitzenkandidat der PARTEI in Hamburg), hat es schwer, als Schriftsteller wirklich ernst genommen zu werden. Das Klischee des Grüblers, der im stillen Kämmerlein mit nichts als seinem Geist und seiner Schreibmaschine ringt, sitzt noch in manchen Feuilleton-Köpfen. Jemand, der sich raus ins Leben stürzt und auch ein künstlerisches Terrain jenseits der Literatur bearbeitet (und womöglich gar als gleichwertig betrachtet), gilt dort als tendenziell leichtgewichtig.
Mit dem heute erscheinenden Roman Der goldene Handschuh dürfte es Heinz Strunk gelingen, dieses Stigma abzulegen. Erstmals schreibt er ohne autobiographische Bezüge, stattdessen hat er sich der Geschichte des vierfachen Frauenmörders Fritz Honka angenommen, der 1976 vor Gericht gestellt wurde. An den aufsehenerregenden Prozess kann sich Strunk, 1962 in Hamburg geboren, noch gut erinnern. Zudem ist Der goldene Handschuh, die seit 1962 rund um die Uhr geöffnete Kneipe am Hamburger Berg, in der Honka seine Opfer fand, das Stammlokal des Autors. Sechs Jahre lang hat Strunk für das Buch recherchiert, unter anderem in bisher nicht zugänglichen Gerichtsakten. Das Ergebnis ist ein Blick auf gesellschaftliche Abgründe, erschütternd, extrem und brutal.
Der Roman fängt an wie ein Krimi, dann wähnt man sich in einer St.-Pauli-Milieustudie, in der nicht nur ein bisschen vom rüden Ton Clemens Meyers anklingt, inklusive der falschen Grammatik der Figuren und des großen Mitgefühls des Autors für sie, vor allem für die besonders Heruntergekommenen. Im Goldenen Handschuh (der Kiezkneipe und dem Buch) tummeln sich Typen, die Spitznamen wie Fanta-Rolf, Soldaten-Norbert oder Leiche haben. “Würde sich das Wort ‘sterbliche Überreste’ nicht ausschließlich auf Verstorbene beziehen, es würde auf Leiche perfekt passen. So wie ‘lebensmüde'”, heißt eine der typischen Kurzcharakterisierungen. Der Wirt, ein ehemaliger Box-Champion namens Herbert, “kann Verrückte, Irre und Wahnsinnige voneinander unterscheiden, einen Schreihals von einem Schläger und einen Dieb von einem Mörder” – und dieses besondere Talent ist durchaus gefragt im Goldenen Handschuh.
Fritz Honka, genannt Fiete, ist Stammgast dort. Seine Vergangenheit ist voller Misshandlungen, seine Gegenwart besteht vor allem aus Alkohol. An der Theke gabelt er Frauen auf, die noch mehr heruntergekommen sind als er, nimmt sie mit nach Hause und tötet sie dann, mal nach ein paar Wochen voller sadistischer Erniedrigung, mal auch schneller nach einer eskalierten Auseinandersetzung. Es ist, neben dem Feingefühl bei der Beobachtung dieser Halbwelt aus Zigarettenrauch, Uringestank und gelallter Hoffnungslosigkeit, der Ton, der die besondere Leistung von Heinz Strunk in diesem Roman ausmacht. “Heinz Strunk, dem das Stilwunder gelungen ist, ohne Kälte lakonisch zu schreiben. (…) treibt die Empathie mittels erlebter Rede, die er unfassbar präzise einsetzt, bis dahin, wo sonst niemand mehr mitfühlen will”, hat Jürgen Kaube das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf den Punkt gebracht. Auch der Autor selbst stellt diesen Aspekt ins Zentrum von Der goldene Handschuh. “Mitgefühl ist die frohe Botschaft der Literatur”, zitiert er Rainald Goetz in einem Interview zum Buch. “Und wenn man als Autor keine Empathie für seine Figuren empfindet, hat man sowieso schon verloren. Empathie sollte man aber auf keinen Fall verwechseln mit Sympathie.”
Heinz Strunk will die Außenseiter nicht in die Mitte holen, aber er will ihnen nahe sein. Das gilt in diesem Roman nicht nur für die gescheiterten Existenzen im sozialen Abseits. Eine zweite Hauptfigur ist WH2, Spross einer Hamburger Reederdynastie. Sein Selbstbild, seine Sexualität und sein Blick auf die Welt sind nicht weniger kaputt als die von Fritz Honka. “Obwohl ihm an Geld nicht sonderlich viel liegt, hätte er gerne mehr davon”, heißt es über ihn. “Weil er es für angemessen hält. Und warum? Weil er etwas Besseres ist. Wenn nicht er, wer dann? Seine Herkunft durchdringt ihn bis in die letzte Pore und verleiht ihm ein Gefühl natürlicher Überlegenheit. Fünf Begriffe, mit denen man ihn nicht umschreiben kann: Sonderangebot, Camping, Schützenfest, Kumpel, Rasenmäherverleih.”
Gerade diese zweite Ebene verweist auf das vielleicht zentrale Thema in diesem Roman: Es ist der Wunsch nach Normalität und die Erkenntnis, wie einfach es – am oberen wie am unteren Rand der Gesellschaft – ist, aus ihr herauszufallen. Damit geht es auch um die Frage, was am Normalen eigentlich erstrebenswert sein soll und warum wir es als normal definiert haben, wenn es uns doch entgleitet, sobald wir aufhören, uns anzustrengen und im Griff zu haben. Nicht zuletzt bekommt Der goldene Handschuh mit dieser Fragestellung auch eine sehr aktuelle Dimension. Das Buch zeigt, wie brüchig unsere Zivilisiertheit ist, wie sehr das Selbstbild unserer Gesellschaft und unseres Landes von Disziplinierung abhängt. Fritz Honka und WH2 sind Personifizierungen von Wut, Aggression, Frust und Menschenverachtung, die in der scheinbaren Mitte der Gesellschaft schon lange verbreitet und verwurzelt waren, bevor sie in der AfD ein politisches Sprachrohr gefunden haben.
Bestes Zitat: “Sie wissen, dass sie früher sterben müssen als die anderen, doch die Zeit bis dahin kommt ihnen immer noch zu lang vor.”