Juan Carlos Onetti – „Das kurze Leben“

Autor Juan Carlos Onetti

Ein Mann erfindet sich in "Das kurze Leben" neu.
Ein Mann erfindet sich in „Das kurze Leben“ neu.
Titel Das kurze Leben
Verlag Süddeutsche Bibliothek
Erscheinungsjahr 1950
Bewertung

Das Kurze Leben ist die Geschichte von Juan Maria Brausen, einem 40-jährigen Werbetexter aus Buenos Aires. Seine Frau Gertrudis bekam gerade eine Brust amputiert, nebenan ist eine neue Nachbarin namens Queca eingezogen, die als Prostituierte arbeitet, sein Chef will ihn wohl bald rausschmeißen und ein Kollege bietet ihm den lukrativen Auftrag an, ein Drehbuch zu schreiben.

Genauer müsste es allerdings heißen: Das Kurze Leben sind die Geschichten von Juan Maria Brausen. Plural. Denn der Ich-Erzähler in diesem Roman, der als wichtigstes Werk des Uruguayers Juan Carlos Onetti (1909-1994) gilt, spaltet seine Person schon sehr bald auf. Es gibt drei Ebenen mit drei Hauptfiguren: Da ist Brausen, der Werbetexter. Da ist Arce – ein Tarnname, den sich Brausen für die Besuche bei seiner Nachbarin zulegt. Und da ist Diaz Grey, ein Arzt in einer Kleinstadt, den Brausen für sein Drehbuch erfindet.

Es dauert freilich eine ganze Weile, bis dem Leser diese Ordnung klar wird und man zu ahnen beginnt, dass Brausen all diese Figuren verkörpert und ausfüllt. Denn Das kurze Leben zeichnet sich durch eine faszinierende Langsamkeit aus. Es gibt viel Stillstand und Lähmung, die dann immer wieder ruckartig aufgelöst werden. Jeder Moment, jeder Satz, jede Person wird bis ins tiefste Detail ausgeleuchtet und analysiert. So gut wie alles wird dabei personalisiert: Luft, Zimmer, Möbel. Die Aussage dahinter ist wohl: Mensch und Umwelt sind letztlich eins, im gleichen Maße vielfältig, chaotisch und unbarmherzig.

Mit diesen Stilmitteln und sehr vielen inneren Monologen gestaltet Onetti einen sehr sinnlichen Roman, voller Schwere und Schwüle. Immer wieder schildert er fein beobachtete Gesten, in denen viel (vielleicht: die gesamte) Bedeutung liegt. Allerdings bringt diese Herangehensweise auch eine Manieriertheit mit sich, die mitunter schwer zu ertragen ist. Es gibt in diesem Buch keine Leichtigkeit; praktisch jede Figur ist ein Philosoph, zerfressen von Selbstzweifeln, zum Scheitern verurteilt. Auch die Zeitsprünge tragen dazu bei, dass die Lektüre mitunter spröde und anstrengend wird.

So erlebt der Leser fast körperlich mit, wie sich Brausen mit seiner Selbstsuche martert. Er hofft, in der Analyse seines Ich sein wahres Wesen und den Schlüssel zum Glück zu finden. Doch er entdeckt nur immer mehr an sich, das unvollkommen, belanglos oder sogar verachtenswert ist. Ihn plagt die Ahnung, das falsche Leben zu leben, am falschen Ort, zur falschen Zeit, mit der falschen Frau. „Schlimm ist nicht, dass das Leben Dinge verspricht, die es uns nie geben wird; schlimm ist, dass es sie immer gibt und dann nicht mehr gibt“, lautet seine Erkenntnis.

Meisterhaft gelingt es Onetti, zu zeigen, wie sich seine Hauptfigur in diesem Konflikt verfängt. Brausen will zu sich selbst finden, und als er erkennt, wie trostlos sein Leben als Asket ist, wählt er letztlich ausgerechnet den Weg der Entäußerung. Zuerst erlebt er sich nur noch als Nachahmung seiner selbst. “Ich, Juan Maria Brausen und mein Leben waren nichts als leere Formen, bloße Darstellungen einer alten, durch Trägheit aufrechterhaltenen Bedeutung, eines ohne Glauben durch Menschen und Straßen und Stunden der Stadt, durch Routinebehandlungen hingeschleppten Menschenwesens“, stellt er fest, als seine Verwandlung schon in vollem Gange ist.

Dann schreitet er aus der Apathie in ein Leben mit Mordgelüsten (nicht nur einmal erinnert er dabei an den Raskalnikow aus Dostojewskis Schuld und Sühne), Drogen, sexuellen Eskapaden und Verbrechen. Am Ende scheint er dem Wahnsinn nahe, wenn die drei Ebenen vollends verwischen: Diaz Grey, der Arzt aus dem Drehbuch, erkennt plötzlich einen Arbeitskollegen des echten Brausen, der im Drehbuch gar nicht vorkommt. Brausen reist wiederum in persona in die Stadt Santa Maria, die er sich als Wirkungsstätte für Diaz Grey allerdings bloß ausgedacht hat.

So wird Das kurze Leben letztlich zu einem Roman über den Versuch, sich selbst – und sogar die Realität – neu zu erfinden. „Es geht (…) darum, dass man glaubt, zu einem Leben verurteilt zu sein bis zum Tode. Dabei ist man nur zu einer Seele verurteilt, zu einer Seinsart. Man kann viele Male leben, viele mehr oder minder lange Leben“, heißt die vielleicht wichtigste Botschaft in diesem Buch. Das ist nicht immer kurzweilig, aber letztlich ein eindrucksvoller Appell für das Forschen nach Bedeutung und Echtem. Und eine spannende Betrachtung über die Kraft (und Grenzen) der Fantasie.

Bestes Zitat: „Alle Lebensweisheit beruht auf der schlichten Bequemlichkeit, uns in die Lücken der Ereignisse, die wir nicht mit unserem Willen ausgelöst haben, einzufügen, nichts zu erzwingen, jeden Augenblick einfach nur zu sein.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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