Künstler*in | Elbow | |
Album | Flying Dream 1 | |
Label | Polydor | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung | Foto oben: Universal Music |
Egal, ob man sich als Fan der ersten Stunde betrachtet (das heißt: mittlerweile seit fast einem Vierteljahrhundert) oder erst mit den jüngsten Erfolgsalben (die drei unmittelbaren Vorgänger dieser Platte erreichten jeweils #1 in den UK-Albumcharts) auf den Elbow-Geschmack gekommen ist: Mit The Seldom Seen Kid werden alle etwas anfangen können, die ein Interesse an dieser Band oder britischer Musik insgesamt haben. Das gleichnamige Album aus dem Jahr 2008 hob die Karriere von Elbow künstlerisch und kommerziell auf ein neues Niveau und brachte dem Quartett unter anderem den Mercury Music Prize ein. Sänger Guy Garvey hat diese Auszeichnung ganz schlicht als “das Beste, was uns jemals passiert ist” bezeichnet.
Was bei diesem legendären Album fast in Vergessenheit geraten ist: The Seldom Seen Kid ist benannt nach einem Song, der dann gar nicht auf der Platte berücksichtigt wurde. Erst jetzt dürfen Fans dieses Lied über einen verstorbenen Kindheitsfreund kennen lernen. Es erweist sich als ein sehr typischer Moment für das neunte Album von Elbow. Erstens kommt The Seldom Seen Kid sehr vorsichtig und tastend daher, das Stück ist in keinem Moment auf Effekt aus, aber in jeder Note auf Schönheit. Zweitens passt der Inhalt wunderbar zu den Themen auf Flying Dream 1 und auch zur Entstehungsgeschichte der Platte. Es geht häufig um Familie und Herkunft, auch ums Zurückschauen und das Beobachten von Veränderungen, die oft genug als Symptome einer Krise wahrgenommen werden können.
Unzweifelhaft hat hier Covid-19 seine Spuren hinterlassen, das Flying Dream 1 auf doppelte Weise geprägt hat. Zu den Erschwernissen dabei zählt die Tatsache, dass die vier Musiker erstmals jeder für sich allein zuhause geschrieben haben und Ideen nur auf Online-Kanälen austauschen konnten. Dabei wurde auch älteres Material durchforstet wie eben der verlorende Titeltrack aus dem Jahr 2008. Als Pluspunkt erwies sich die Chance, das Album mit Produzent Craig Potter im Theatre Royal in Brighton aufnehmen zu können, das wegen der Pandemie noch geschlossen war und ein einzigartiges Ambiente ermöglichte, als das Quartett endlich wieder gemeinsam in einem Raum musizieren durfte.
“Uns war schnell klar, dass wir eine Platte machen wollten, die sich von den üblichen Richtlinien für Kreativität loslöst”, sagt Guy Garvey. “Wir lieben geduldige, ruhige, Gesamtkunstwerk-Alben wie die letzten Talk Talk-Platten. (…) Wir haben schon immer solche Songs geschrieben, aber jetzt fühlte es sich natürlich an, ein Album zu machen, das sich auf die sanftere Seite unserer Musik konzentriert. Es gab Herausforderungen, aber durch sie hindurch war das gemeinsame Schreiben in der Ferne ein Rettungsanker. Die Platte ist zerknirscht und wehmütig, nostalgisch und voller Dankbarkeit. Wir sind so glücklich, dass unsere Familie und Freunde in Sicherheit sind. Es geht um diese Liebe.”
Die wichtigsten Wörter in diesem Zitat lauten “ruhig” und “geduldig”. Dass Elbow inmitten von Corona offensichtlich keine Möglichkeit sehen, mit dieser Platte auf Tour zu gehen, hat dabei vielleicht zusätzlich dazu beigetragen, dass es diesmal kaum Tempo und auch keine Hymnen- und Rock-artigen Songs gibt, für die sie so geschätzt werden. Bloß The Only Road hat ausnahmsweise einen beinahe treibenden Rhythmus und wird damit zum zugänglichsten Moment des Albums. Calm And Happy wird hingegen einer von vielen Beweisen dafür, wie wenig Wert sie hier auf unmittelbare Wirkung durch konventionelle Strukturen legen, statt eines Beats bietet der Song beispielsweise ein windschiefes Gitarrensolo.
Flying Dream 1 eröffnet das Album mit Klavier, Kontrabass und Besenschlagzeug, Garveys Stimme lässt dabei im Umfeld dieser weniger stürmischen Arrangements manchmal an Peter Gabriel denken. After The Eclipse bietet unter anderem Holzbläser, einen Chor und ein abstraktes Klaviersolo. Ein dezent tropischer Rhythmus wie aus einer altertümlichen Drum Machine und ein Saxofon sind die prägenden Elemente von Is It A Bird. Die Verse “What am I on earth for / if not to put you to bed” erweisen sich in What Am I Without You als Beispiel für die wieder einmal wundervollen Texte von Guy Garvey, das Lied zeigt zudem, dass die bekannte Grandezza durchaus noch vorhanden ist. Six Words besteht zunächst fast nur aus Klavier und Gesang, was in der Wirkung nicht unendlich weit weg von Franz Schubert (!) ist, bevor nach zwei Minuten plötzlich ein mystischer Dub daraus wird.
Come On, Blue kann man als Paradebeispiel für das gesamte Album betrachten: Das Stück beginnt sehr reduziert und wird dann nach und nach opulenter, ohne dass das Gefühl von großer Intimität verloren ginge. All die subtilen Elemente der Komposition und des Arrangements vereinen sich am Ende, um die wohlige, warme Atmosphäre noch mehr zu verstärken, die natürlich auch von Garveys “Stimme mit der Wirkung eines Massagesessels” (Musikexpress) getragen wird. Einzig Red Sky Radio (Baby Baby Baby) weicht von diesem Schema ab und setzt von Anfang an auf eine große Geste, mit U2-Melodie und Arcade-Fire-Instrumentierung.
Flying Dream 1 bietet weniger Spektakel und Dynamik als die Vorgänger, ein Manko ist die besinnlichere Variante dieser Band aber keineswegs: Erstens passt die bei Elbow so verlässlich zu findende Ernsthaftigkeit bestens in die Zeit einer globalen Krise. Zweitens können sie mit Flying Dream 1 eine andere Facette betonen und das Risiko minimieren, auf einen bestimmten Sound festgelegt zu werden.